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Die enigmatische Sprache der Kunst
Becketts Roman ›Der Namenlose‹ mit Adorno gelesen

Mitschnitt des Vortrags von Martin Krempel vom 12.12.2013

Nach Theodor W. Adorno trägt jedes gelungene Kunstwerk Geheimnisse über den Zustand des menschlichen Zusammenlebens in sich verborgen, welche danach verlangen ästhetisch erfahren und intellektuell gedeutet zu werden. Durch ihren eigensinnigen Sprachcharakter können Kunstwerke verschüttete Erfahrungen thematisieren, während der gleiche Sprachcharakter verhindert, dass diese Erfahrungen vom Rezipienten in Gänze verstanden werden. Sie bleiben Rätsel, die die paradoxe Aufgabe herausfordern, durch ihre unmögliche Entschlüsselung hindurch, entschlüsselt zu werden.

Im Vortrag soll das schwierige Unternehmen versucht werden den Roman Der Namenlose von Samuel Beckett nicht nur ästhetisch zu beschreiben, sondern auch nach seinem geheimen Kern theoretisch zu befragen. Im Roman selbst findet man sich im Kopf des namenlosen Protagonisten wieder und ist gezwungen dessen psychotischen Diskurs über sich selbst, seine Sinneswahrnehmungen, seinen Drang zum Nichts, dem endgültigen Tod, und den anderen Stimmen und Gestalten in offenen Räumen nachzuirren. Dabei ist man mit drei verschiedenen Sequenzen konfrontiert: einer sich ständig wiederholenden und sich verschiebenden Identitätssuche, dem Entwurf von schaurig-schönen Fabeln, Bildern und Pantomimen, und einer immer wieder eingeschobenen negierenden Selbstreflexion über das Geschehen. Alle drei Sequenzen sind dabei so tief ineinander verschlungen und durchgeformt, dass sie sich zu einer düsteren aber immer schon verloren gegangenen Welt zusammenziehen.

Im vorsichtigen Rückgriff auf die vielen Notizen die Adorno über Becketts oeuvre, z. B. in der Ästhetischen Theorie, in den Noten zur Literatur oder auch in seiner eigenen Ausgabe des Romans Der Namenlose, niedergeschrieben hat, soll für diese trostlose Welterfahrungen eine Interpretation Stück für Stück entwickelt werden. Adorno selbst schrieb 1962 in einem Brief an Werner Kraft über seine Beckettlektüre: »Übrigens glaube ich, daß die Romane an Bedeutung über die Stücke noch hinausgehen, vor allem L`Innommable, den ich jetzt mit wahrhaft fieberhafter Teilnahme gelesen habe. Eine Interpretation habe ich, noch während der Lektüre, skizziert; vielleicht finde ich neben meinen großen Projekten Zeit, sie zu textieren. Sie sollten aber diesen Roman unbedingt lesen, obwohl gute Nerven dazugehören – damit verglichen ist Kafkas Strafkolonie wie der Nachsommer

Der Anspruch des Vortrages lautet nichtsdestotrotz, den Roman auf keinen Fall in Adornos Philosophie zu ertränken oder auch nur dessen potentielle Interpretation nachholen zu wollen, sondern einzelne ästhetische Reflexionen von Adorno als Hilfestellung zu benutzen, um das Kunstwerk als Kunstwerk eigenständig deuten zu können. Becketts Werke scheinen unterschiedlichste philosophische Auslegungen über Adorno hinaus, wie z. B. die von Günther Anders, Gille Deleuze, Alain Badiou oder Simon Critchley, um nur einige wenige zu nennen, magisch anzuziehen, vielleicht auch weil Beckett der Philosophie, ohne vor-philosophisch zu werden, so kompromisslos wie kein Zweiter das Gericht gemacht hat.

In der angestrebten Interpretation soll die These verteidigt werden, dass im Namenlosen eine extreme Situation der spätmodernen Weltlosigkeit ihren künstlerischen Ausdruck findet. Und zwar indem die Themen Subjekte ohne Subjektivität, Topologie des sozialen Todes und Ethos der Hoffnungslosigkeit, unnachahmlich durchgespielt werden. Jedes dieser Themen ist nicht nur auf der inhaltlichen sondern auch auf der formalen Ebene, z. B. durch die Mittel der Subtraktion, Dissonanz, psychotisch gebrochene Satzstruktur, inneren Spannung, gleichbleibenden Dichte, Symbolwirkung starker Substantive, des Echos, Ausdrucks, Glanzes und der Erschütterung, aufgehoben. Beckett hat in seinem Werk die klassische Struktur des Romans, in welcher unter einer je spezifischen Dramaturgie mit einem Anfang und einem Ende handelnde Subjekte ihre Beziehung zur Welt organisieren, gekappt und in neuer, negativer Art und Weise fortgeführt. Das zentrierende Moment ist nun nicht mehr ein tragischer oder komödiantischer Sinnzusammenhang, sondern die Fokussierung auf einen imaginären Nullpunkt, einer des Schweigens, der Ruhe und des letzten Friedens, um welchen herum die Handlung verzweifelt auf der Stelle tritt. Dadurch wird die fiktionale Beschwörung einer anderen Welt ebenso wie die realitätsgerechte Beschreibung gesellschaftlicher Totalität hinter sich gelassen, um im Schaurigschönen der gesteigerten Realitätskonfrontation festzuhalten, dass das, was ist, nicht alles sein kann, wenn Leiden das Leben zu erdrücken sucht. »Becketts Stücke oder der wahrhaft ungeheuerliche Roman Der Namenlose üben eine Wirkung aus, der gegenüber die offiziell engagierten Dichtungen wie Kinderspiel sich ausnehmen; sie erregen die Angst, welche der Existenzialismus nur beredet.« (Adorno)

Martin Krempel lebt in Weimar und studiert Gesellschaftstheorie in Jena.