Mitschnitt des Vortrags vom 25.06.2020
Die eindrücklichsten Äußerungen radikaler Kunst stecken häufig nicht in Inhalten, sondern in der Existenz der Werke überhaupt. Allein der praktische Lebensentwurf der alleinerziehenden jüdischen Frau und freien Künstlerin Else Lasker-Schüler (1869-1945) ist in seiner Konsequenz und Kompromisslosigkeit von beeindruckender Radikalität. Dagegen verblassen explizit ausgesprochene Botschaften. Lasker-Schüler äußert sich in einem ihrer Texte kulturpolitisch. Das Manifest Ich räume auf! Meine Anklage gegen meine Verleger zeugt von der prekären Existenz freier Künstler*innen in der Weimarer Republik. Hellsichtig führt Lasker-Schüler das Problem darauf zurück, dass in einer zweckorientierten, kapitalistischen Gesellschaft nur überlebt, wer eine gefragte Ware feilbieten kann. Doch eigentlich ist all das nur ein Vorwand der Dichterin, Graphikerin und Performance-Künstlerin die eigene Position und die eigene subalterne Stimme im literarischen Feld zu sichern. Lasker-Schülers Politik liegt nicht so sehr in der Bedeutung ihrer Worte, sondern vielmehr darin welche Worte und Motive sie überhaupt wählt und kombiniert. Sie hat eine große Schwäche für alles Geringgeschätzte und nichts als spöttische Ironie für das Erhabene übrig. So stellt ihre Kunst radikal Machtverhältnisse und Diskurshoheiten in Frage – indem sie deren Sturz praktisch mit ihrem eigenen Material vorführt.
Julia Ingold ist Literaturwissenschaftlerin und Kunsthistorikerin. Sie arbeitet am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Literaturvermittlung der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Seit 2014 gibt sie zusammen mit Kolleg(inn)en CLOSURE – Kieler e-Journal für Comicforschung heraus.