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Gegen Ohne Für
Thesen und Notizen zur Podiumsdiskussion am 19.09.2009 in Hamburg

Roger Behrens

»Effekt, sagt Wagner, ist Wirkung ohne Ursache. Kunst ist Ursache ohne Wirkung«. Karl Kraus, ›Pro domo et mundo‹, in: ›Die Fackel‹, 13. Jg., Heft 315 / 316, 26.Januar 1911, S. 32.

1

Geht es um das Verhältnis von Kunst und Politik, Avantgarde und gesellschaftliche Emanzipation, kommt man um eine kritische Spezifizierung der damit verhandelten Begriffe nicht herum; problematisch, aber unvermeidbar ist dafür eine zunächst abstrakt allgemeine Infragestellung der Begriffe (»Was ist Kunst?«, »Was ist Politik?«, »Was ist Gesellschaft?« etc.).

Kunst ist ein soziales Verhältnis; und wie jedes soziale Verhältnis kann sie nur dialektisch bzw. in ihrer Dialektik begriffen werden. Dazu gehört als wesentliches Moment, dass es keine positive Definition der Kunst gibt.

Die Ansicht, dass jeder »subjektiv« oder »für sich selbst bestimmt«, was Kunst ist, ist zwar idiotisch (im wörtlichen Sinne), bezeichnet aber objektiv die gegenwärtige gesellschaftliche Funktion der Kunst und ihrer Ideologie.

›Kunst‹ ist dabei kaum ein Begriff, sondern ein Name beziehungsweise eine diffuse Bezeichnung, die in ihrem Bedeutungsgehalt offen und optional bleibt. Das heißt, dass sich die unterschiedlichen Vorstellungen von dem, was Kunst ist, überhaupt nicht nominell ausschließen, auch wenn sie begrifflich völlig entgegengesetzt sind. In der Regel folgt man damit den unterschiedlichen gesellschaftlichen Diskursen, in denen jeweils konventional ›Kunst‹ als solche fixiert wird.

Schwieriger für dieses »ideologisierte« Verhältnis zur Kunst ist schließlich die Frage, was keine Kunst ist. Wenn jeder für sich definieren darf, was Kunst ist, wird an sich alles objektiv zur Kunst. Damit wird jede gesellschaftskritische Reflexion auf Kunst ad absurdum geführt und tendenziell überflüssig: Denn genauso, wie jeder sich subjektiv anmaßt, kraft des subjektiven Urteilsvermögens, zu entscheiden, was Kunst ist, reklamiert auch jeder eine kritische Position gegenüber der Kunst und verlängert zugleich den Subjektivismus in die Frage, was kritische Kunst ist.

Zu einem besonderen Problem wird dies, wenn diejenigen, die nun subjektiv Entscheidungen über Kunst treffen zu können beanspruchen, selbst Künstler sind. (Beispiel: Künstler im Gängeviertel …)

Der Künstler tritt hier als Experte auf, der seine Expertise aus einer Art redundanter Selbstidentifikation gewinnt (»Ich bin Künstler, weil ich Kunst mache; ich mache Kunst, weil ich Künstler bin …«). Flankiert wird er von anderen Experten, die gleichsam das identitäre Feld der Kunst stabilisieren und begrenzen: Kunstkritiker, Kunsthändler, Sammler, Agenten, Angestellte der Kunstinstitutionen, Journalisten und »Wissenschaftler« …

Diese Ideologie der Kunst kann indes nicht einfach aufgeklärt werden, sondern muss historisch kritisiert werden: Sie ist Resultat der Entwicklung der Künste in der bürgerlichen Gesellschaft und insofern aus der Dialektik von Kunst und Gesellschaft selbst zu bestimmen. Die Entwicklung der freien Künste respektive die Verschränkung von ästhetischer Autonomie der Kunst und ihrer Kommodifizierung im neunzehnten Jahrhundert muss als Ausgangspunkt einer kritischen Reflexion über den gegenwärtigen Status der Kunst und der Künste verstanden werden.

2.

In der Ideologie der Kunst (Terry Eagleton spricht parallel von der ›Ästhetischen Ideologie‹) findet die Krise der Gesellschaft ihren Ausdruck – insbesondere als Krise bürgerlicher Subjektivität.

Das bürgerliche Subjekt konstituierte sich als Vernunftwesen. Die Fähigkeit zur Rationalisierung musste trotz der herrschenden (und fortschreitend herrschenden) Irrationalität der gesellschaftlichen Verhältnisse legitimierbar sein; diese Legitimation übernimmt neben Recht, Sittlichkeit und Ethik in der bürgerlichen Ordnung die Ästhetik.

Die Ästhetik wird wesentlich als Urteilskraft verstanden, die dem bürgerlichen Subjekt ein für seine Selbstpositionierung als autonomes Subjekt und Individuum entscheidendes Vermögen verleiht: Geschmack (bzw., über den englischen Empirismus, ›taste‹).

Entscheidend ist das Geschmacksvermögen deshalb, weil es das Subjekt befähigt, sich als Subjekt zu objektivieren. In Kants ›Kritik der Urteilskraft‹ (1790) ist das philosophisch gefasst; als politisches Programm wird es von Schiller in den ›Ästhetischen Briefen‹ (1795) fortgesetzt und findet schließlich innerhalb des Idealismus in Hegels Kunstphilosophie seinen Abschluss (›Vorlesungen über die Ästhetik‹, 1817–1829, nach Heinrich Gustav Hotho, 1853– 1838). Spätestens mit Hegel wird dabei die Ästhetik originär an die Kunst respektive das Kunstschöne und das Kunstwerk gebunden. Damit verschiebt sich die subjektkonstitutive Frage des Geschmacksurteils auf die ebenfalls subjektkonstitutive Frage der gesellschaftlichen Funktion der Kunst.

Die Künste, und mit ihnen das dezidierte ästhetische Geschmacksurteil, verlieren zunehmend an legitimatorischer Bedeutung für die bürgerliche Gesellschaft im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts. Gleichzeitig werden die Künste, eingebettet in der Massenkultur, die sich aus der Hochkultur als deren gesellschaftlich-konkrete Manifestation ebenfalls im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts herausbildet (Museen, Theater, Konzert- und Opernhäuser etc.), neu funktionalisiert: Zusammen mit der Ästhetik dienen die Künste zunehmend vornehmlich der Unterhaltung, der Verhübschung und der Ablenkung.

Zwar haben sich vor diesem Hintergrund, der insgesamt die Dynamik der Moderne und die Dialektik der modernen Kunst bezeichnet, die ästhetischen Avantgarden herausgebildet; doch hat sich seither auch die Kunst zunehmend vom gesellschaftlichen Leben entfernt (weshalb die Forderung der Avantgarde, Kunst in Lebenspraxis zu übersetzen, überhaupt revolutionär sein konnte …): Konsequenzen hat das vor allem für die Ästhetik im Sinne des Umgangs mit der Kunst; mit der allgemeinen Entwicklung der Warentauschgesellschaft in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts (Fordismus), verschiebt sich eine rezeptionsästhetische Haltung zur konsumistischen Haltung gegenüber Kunst; es tritt das ein, was Walter Benjamin 1936 in seinem Essay ›Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‹ als »Ästhetisierung der Politik« bezeichnet und Clement Greenberg 1939 als Ambivalenz von ›Avantgarde und Kitsch‹ darstellt.

3.

Hegel hat das Diktum vom »Ende der Kunst« berühmt gemacht. Damit war nicht gemeint, dass Kunst verschwindet oder aufhört, sondern dass sie in ihrer gesellschaftlichen Funktion transformiert wird. Für seine Zeit diagnostizierte Hegel, dass die Kunst nicht mehr die prädestinierte Kraft der Geschichte sei, den Weltgeist einzulösen. Dies habe nunmehr die Philosophie übernommen.

Marx aktualisierte in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Hegels Befund mit Blick auf die Industrialisierung und gab damit der These vom Ende der Kunst die entscheidende materialistische Wende. Zeitgleich etablierte sich überhaupt erst eine Idee der Modernität in den Künsten (Charles Baudelaires ›Le Peintre de la Vie Moderne‹; Gustave Courbets ›Realistisches Manifest‹, Offenbachs Operetten wie ›Orpheus in der Unterwelt‹ etc.) und damit eine Avantgarde (nach Peter Bürger, ›Theorie der Avantgarde, 1974).

Ein weiteres »Ende« erlebt die Kunst als moderne Kunst mit dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution. Problematisch wird nicht nur das Verhältnis der Künste zur gesellschaftlichen Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit selber. Der (deutsche) Expressionismus ist darauf die reaktionäre Antwort, während der Surrealismus und vor allem die russischen Avantgarden (Formalismus, zum teil Konstruktivismus und Futurismus, Produktivismus; der sowjetische Film [Eisenstein]) als revolutionäre Antworten begriffen werden müssen.

Die Kulturindustrie (Kunst in Zeiten der fordistischen Produktion) stellt gleichsam ein weiteres Ende der Kunst dar: Die neuen künstlerischen Techniken (Fotografie, Massendruckverfahren, Film, Tonaufzeichnungsmöglichkeiten, Rundfunk etc.) haben neue, eigenständige Künste hervorgebracht, die »traditionellen« Künste absorbieren; zugleich sind diese neuen Künste aber abhängig und wesentlich verbunden mit den Produktionsverhältnissen (der Film ist ohne die Entwicklung des modernen Kinobetriebes nicht vorstellbar; zur Literatur gehört das Taschenbuch und der Groschenroman [d. i. ursprünglich etwa an den Bahnhöfen aufgestellte Automaten, in denen Bücher für die Reise gekauft werden konnten]; insgesamt werden die Künste verschiedenen Verfahren unterworfen und in neue Strukturen eingebettet; in Stichworten: Standardisierung und Arbeitsteilung (z. B. Studiosystem in Hollywood, Jazz [Big Bands]); Reklame (vgl. Veränderungen der Werbegrafik in den zwanziger Jahren; »Erfindung« der Public Relations durch Edward Bernays [›Propaganda‹, 1928]); Verallgemeinerung der Angestelltenkultur als Alltagskultur (vgl. Kracauer, ›Die Angestellten‹, 1930) und die Einbindung der Künste in Mode und Design (vgl. Bauhaus, Neue Sachlichkeit, Haute Couture versus Stangenware etc.).

Drastisch widerfährt den Künsten durch den Nationalsozialismus, durch den Zweiten Weltkrieg, Auschwitz und Hiroshima ein weiteres Ende, insofern auf grausamste Weise nunmehr die Kunst selbst infrage gestellt zu sein scheint (vgl. Adornos Diktum, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch …).

So realisiert sich für die im engeren Kanon der nach wie vor der Hochkultur zugeordneten Künste in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts tatsächlich Hegels Ende der Kunst: Adorno spricht von einem Absterben und Verstummen der Kunst, von einer Entkunstung der Kunst als ihrem falschen Ende, schließlich einer Verfransung der Künste. Nicht getrennt werden kann dies allerdings von der Entfaltung der Popkultur, die den Künsten insgesamt einen vollkommen neuen Status und insofern auch neue gesellschaftliche Funktionen zuweist. Gerade die Musik, die als Hochkunst immer eine prekäre Sonderrolle hatte (nämlich entweder wie bei Hegel in die Hierarchie der Künste ganz unten eingeordnet wurde, oder ästhetizistisch wie bei Schopenhauer oder Nietzsche überhöht wurde), löst nun die Literatur als Leitkunst ab …

Innerhalb der Popkultur etabliert sich indes ein höchst differenziertes Kunstfeld, mit dem sukzessive die Kunst sich als Spektakel behauptet. Sie provoziert durch Pseudoparadoxien: sie kritisiert durch Affirmation, affirmiert durch Kritik, begründet sich in Absurdität und legitimiert ihre gesellschaftliche Funktion durch Dysfunktionalität.

Das Ende der Kunst in letzter Instanz: Sie ist überflüssig geworden.

4.

Ideologische Redundanz: Für denjenigen, der nicht an die Kunst glaubt und der von ihr nichts erwartet, erscheint ihre ganzes System als völlig bedeutungsloser Unsinn. Konzediert man aber auch nur eine periphere Sinnhaftigkeit der Kunst (was immer auch damit gemeint ist), hat man das diskursive Universum des ästhetischen und ästhetizistischen Spektakels längst betreten. Das Problem: Bereits mit der Frage, ob Kunst eine Bedeutung hat, hat man ihr eine Bedeutung zugestanden.

5.

Künstlerästhetik, Manifeste. – Mit der modernen Kunst haben Künstler selbst angefangen zu definieren oder zu reklamieren, was Kunst ist. Die normative Bestimmung fällt dabei immer mit der deskriptiven Bezeichnung zusammen: Was Kunst ist, ist zugleich ›richtige‹ oder ›gute‹ oder zumindest ›adäquate‹ Kunst.

Damit verzerrt sich aber die Schwierigkeit, von der Kritikfähigkeit der Kunst zu sprechen, auszumachen, was ihr radikaler, revolutionärer oder emanzipatorischer Gehalt ist.

Kunst selbst, ›an sich‹, kritisiert nichts. Kunst verändert die Welt nicht (und wenn, dann nur die Kunst, die keine Veränderung beabsichtigt). Die Situationisten haben daraus die Konsequenzen gezogen und als Künstler die Kunst verabschiedet und aufgegeben. Sie haben aber weder die Kunst verwirklicht, noch aufgehoben (das haben in der Tat, zum Teil unbeabsichtigt und in falscher Weise, die Surrealisten gemacht). Vom gesellschaftskritischen Standpunkt erscheint der situationistische Umgang mit der Kunst deshalb naiv und, bezogen auf die heutigen Adepten der Situationisten, albern, narzisstisch und dumm.

Künstlerische Praxis als politische Praxis zu erklären, ist idiotisch. Das ästhetische Unvermögen, materialgerecht mit der Form umzugehen, bleibt beim unbegriffenen Inhalt hängen: billige Parolen, unreflektierte Standpunkte, offensiv zur Schau getragenes falsches Bewusstsein; »Kunstwollen« (Alois Riegl) als neue Innerlichkeit und Gefühligkeit.

Auch im Fall der Kunst hat der Materialismus die Theologie unbemerkt in den Dienst zu nehmen. Kunst kann nur in dem Maße kritisch sein und sich als radiale emanzipatorische Praxis behaupten, wenn sie ihr ästhetisches Potenzial stärkt: Wahrheitsgehalt und Erkenntnischarakter bezeichnen den idealistischen Kern materialistischer Kunst.

6.

Die idiosynkratische Ideologie der Kunst: Der Glaube, dass die Kunst etwas von uns will. (Ein religiöser Glaube so wie der, dass Gott auch etwas von den Menschen will.) Tatsächlich ist es umgekehrt: Wenn überhaupt, wollen wir etwas von der Kunst. Die absurde Tragik ist allerdings: Wir wollen nichts von der Kunst; und was wir von der Kunst wollen, ist keine Kunst, sondern bloßes Spektakel.

Wir wollen von der Kunst die Revolution, weil wir unfähig sind, selbst eine revolutionäre Praxis zu entwickeln. Die Kunst bleibt konsequenzenlos. Das gibt Sicherheit. Eine politische Aktion kann man als Kunst deklarieren, um dann die Kunst als revolutionär zu rühmen. Das ist weitaus harmloser, als die politische Aktion als revolutionäre Praxis fortzusetzen.

Der gegenwärtige Status der Kunst: banal.

7.

»Gemalter Fisch macht nicht satt.« Sprichwort

Was ist ein politisches Bild?
(nur eine Antwort ist möglich)

  • Eugene Delacroix, ›Die Freiheit führt das Volk‹, 1830
  • Adolf Menzel, ›Das Eisenwalzwerk‹, 1975
  • George Grosz, ›Deutschland. Ein Wintermärchen‹, 1917 / 19
  • Käthe Kollwitz, ›Nie wieder Krieg‹, 1924
  • Pablo Picasso, ›Guernica‹, 1937
  • Richard Hamilton, ›Just What Is It that Makes Today's Homes So Different, So Appealing?‹, 1956
  • Jörg Immendorff, ›Café Deutschland‹, 1983
  • Martin Kippenberger, ›Nieder mit der Bourgeoisie‹, 1983
  • Gerhard Richter, ›Beerdigung‹, 1988
  • Daniel Richter, ›Nerdon‹, 2004

8.

»Kunst kommt von Müssen.« Arnold Schönberg

Was ist politische Musik?
(nur eine Antwort möglich)

  • Wolfgang Amadeus Mozart, ›Zauberflöte‹, 1791
  • Ludwig v. Beethoven, ›Eroica‹ (3. Sinfonie), 1803 / 04
  • Bedrich Smetana, ›Moldau‹, 1874
  • Dimitri Schostakowitsch, ›4. Sinfonie‹, 1936
  • Billie Holiday, ›Strange Fruit‹ (komp. Abel Meeropol), 1939
  • Hanns Eisler, ›Deutsche Sinfonie‹, 1959 (uraufgeführt)
  • Sun Ra, ›Space is the Place‹, 1972
  • Dirt, ›Democracy‹, 1980
  • Egotronic, ›Raven gegen Deutschland‹, 2006
  • Jochen Distelmeyer, ›Wohin mit dem Hass?‹, 2009

9.

Die marxistische ästhetische Kritik operiert nach zwei Leitsätzen (nach George Steiner), die entweder die formale oder die inhaltliche Gestaltung der Kunst hervorheben.

Lenin argumentiert für Tendenzliteratur; das heißt die Kunst ist der Parteilichkeit verpflichtet. Diese Auffassung richtet sich explizit gegen den ästhetischen Formalismus und mündet mit Shdanow und schließlich Stalin in den Direktiven des sozialistischen Realismus. (Trotzki nimmt eine dazu moderate Position ein und gibt dem Realismus sozusagen eine formalistische Wendung …).

Dagegen steht die formalistische Position, die Kunst nach ihrer immanenten gesellschaftlichen Bedeutung beurteilen. Nicht was ein Künstler sagen will, sondern wie das Kunstwerk durchgestaltet ist, ist entscheidend für den objektiven Gehalt. Insofern geht es um die immanente Logik der Kunst. Sie ist gleichwohl vom »subjektiven Faktor« nicht zu trennen.

Kunst ist nicht nur kritikbedürftig, sondern auch kritikfähig. Die Kritik der Kunst darf aber nicht kunstkritisch verabsolutiert werden. Kunstkritik, wie sie sich im zwanzigsten Jahrhundert etabliert hat, neigt zur Borniertheit des Kunst-Liebhabers, des Ästheten. Der Jargon, der in der Kunstkritik mittlerweile als verbindlicher Diskurs gesprochen wird, ist krude Ideologie: Reklamesprache, die mit esoterischen Phrasen Binsenweisheiten, Quatsch und Gefühlsausbrüche als elementare Erkenntnisse verkauft.

Kritik und Kunst haben sich in den letzten Jahrzehnten zu einem hermetischen Feld verdichtet, das aus sich heraus beharrlich seine Wichtigkeit bezeugt; partiell gelingt es, im großen Umfang die »interessierte Öffentlichkeit« auch von der gesellschaftlichen Wichtigkeit zu überzeugen: Eine Aufgabe, für die Kunstkritik und Kunst zwangsläufig, da faktisch genauso unwichtig wie jedes als Ware hergestelltes Produkt im Kapitalismus, auf die Floskeln der Reklamesprache zurückgreifen müssen. Diese Sprache konvergiert mit der Sprache der Popkultur. Diese Sprache ist antitheoretisch und antiintellektuell. Begriffe wie »Revolution«, »Kritik«, »Radikal « werden ohne weiteres von der Reklamesprache absorbiert.

(Die kritische oder politisch-engagierte Kunst, die von Subersion und Dissidenz redet, die sich über Ausverkauf und Kommerzialisierung der Branche mokiert, spricht genau diese Sprache.)

10.

Die Menschen sind längst an die Kunst gewöhnt. Die gesamte Kunst- und Kulturgeschichte ist zur Dekoration des Alltags geworden; Binnendifferenzierungen zwischen »echter Kunst«, Design, Kitsch, Kunsthandwerk, Werbung, Kinderbildern, eigener Kunstproduktion (zum Beispiel Notizblockkritzeleien, Urlaubsfotos, selbstgebaute Möbel) etc. sind fließend und dynamisch.

Jede Form der Kunst oder des Künstlerischen kann dabei einer temporären eigenen Ästhetik folgen, die keiner bewussten Logik unterworfen sein muss: Kunst – das sind Romane, die Covergestaltung der Taschenbücher, die Musik, die wir hören, das Design der Musikanlage, das Bild an der Wand, das Foto daneben, die Postkarte, die Werbeprospekte im Briefkasten, die Architektur, in der wir wohnen, die Türgriffe, Lichtschalter, Armaturen im Badezimmer; die Graffiti, die Reklameposter, die Werbefilme im Fernsehen, der Kinofilm. Oder ist Kunst nur das, wo Kunst draufsteht und was explizit als Kunst oder kunstvoll erscheint: Der Roman nur, wenn er dem Literaturkanon entnommen ist, das Buchcover nur, wenn ein aus dem Museum bekanntes Werk für die Gestaltung verwendet wurde, das Design der Möbel nur, wenn das Design einen Namen hat, das Bild nur, wenn es »gemalt« ist, das Foto nur, wenn es irgendwie »ästhetisch« wirkt, die Postkarte nur, wenn wir sie selbstgebastelt haben, die Architektur nur, wenn das Gebäude in einem Buch über Architektur zu finden ist, Graffiti nur, wenn sie »hübsch« aussieht und »toll gemacht« ist, der Kinofilm nur, wenn er anstrengend ist und nicht in die Kategorie ›Unterhaltung‹ fällt …? Oder ist Kunst nur die bildende Kunst, zudem nur diejenige bildende Kunst, die im Museum zu sehen ist?

11.

Die bürgerliche Kunst: Nicht jeder soll verstehen, dass das nicht jeder kann.

Die moderne Kunst: Nicht jeder soll verstehen, dass das jeder kann.

Die postmoderne Kunst: Niemand muss verstehen, alle können alles.

Die demokratische Kunst: Alle sollen verstehen, dass das nicht jeder kann.

Die faschistische Kunst: Niemand soll verstehen, niemand kann es.

Die emanzipatorische Kunst: Alle verstehen, alle können alles.

Ist das Kunst? Adorno nannte das die Spießerfrage: Weil sie schlecht-rhetorisch bereits die Antwort parat hat, dass es eben keine Kunst ist. Suspendiert wird damit aber jede Idee der Freiheit aus der Kunst und schließlich die Kunst selbst: Es ist keine Kunst, weil das doch jeder kann beziehungsweise mein Kind ja besser malt. Das ist richtig. Und zwar nicht deshalb, weil jeder Mensch Künstler ist, sondern weil jeder Künstler Mensch ist.

Zusatzfrage: Braucht man Künstler? – Rekruten der kulturindustriellen Reservearmee.

* * *

Ein paar tolle Ideen für Künstler

Auch wenn es alles schon gab – immer mit der Überzeugung auftreten, der Erste und der Originellste zu sein.

Niemals Mittelmaß! Immer mit dem Schlechtesten kokettieren, um als Bester hervorzugehen.

Wähle stets das größte Format.

Arbeitete nie präzise, sei laut und auffällig, geriere Dich aber als bescheidener Pedant.

Sage bei jeder Gelegenheit, dass Du Dich selbst nicht wichtig findest und für unbedeutend hältst.

Fange jedes Gespräch über Kunst damit an, dass Du keine Lust hast, über Dich zu reden, weil das langweilig ist. Rede dann aber nur über Dich.

Monologisiere. Auch in Deinen künstlerischen Arbeiten.

Als Mann: problematisiere niemals Dein Geschlecht. Weiche nie von den Stereotypen der Männlichkeit ab; im Gegenteil: wiederhole sie.

Als Frau: problematisiere ausschließlich und permanent Dein Geschlecht. Wechsel es oder hebe wenigstens Abweichungen des Weiblichen hervor.

Wenn Du keinen Erfolg hast: Sage, dass Du Erfolg möchtest, Dich aber nicht an den Kunstbetrieb verkaufen willst.

Wenn Du Erfolg hast: Sage, dass Du nie Erfolg wolltest, aber kein Problem mit dem Verkaufen hast.

Bleibe Außenseiter. Lege Dir notfalls Marotten zu.

Sei Teil der Kunst oder Teil der Kritik. Stehe niemals zwischen Deiner Kunst und den Kritikern!

Nehme Drogen. Bestätige das in jedem Interview, beteilige Dich aber an Kampagnen gegen Drogen.

Rechtfertige Deinen Alkoholismus mit ein paar guten Flaschen Rotwein.

Wenn Du bekannt werden willst: Erwähne bei allen Gelegenheiten immer wieder laut, so dass es alle hören, die Namen irgendwelcher bekannten Künstler. Tu so, als wenn Du mit ihnen eng befreundet wärst. – Wenn Du bekannt bist: nie wieder laut den Namen eines ebenfalls bekannten Künstlers erwähnen; nur leise und mit Bedacht.

Fühle dich allen gegenüber überlegen; beziehe daraus aber Deinen Charme.

Verhalte Dich im richtigen Moment normal oder sei so verrückt, dass die anderen es für normal halten.

Behaupte, dass Du wesentlich eine bestimmte Szene mit aufgebaut hast. Lass Dich dort aber nicht mehr blicken.

Arbeite an Deiner Ausdrucksweise: Benutze in einem ausgewogenen Verhältnis Schimpf- und Fremdwörter. Rede Unsinn, denke in Schlagworten, bleibe aber eloquent in jeder Äußerung.

Eigne Dir einen überschaubaren Vorrat von Anekdoten an, die Du immer wieder erzählst. Obwohl das alle langweilen wird, weil alle die Geschichten schon zehnmal gehört haben, wirst Du so stets begeisterte Zuhörer um Dich haben.

Trete als Demokrat auf, wenn Du es geschafft hast. Bleibe bis dahin Anarchist.

Sei mit Deiner Selbstkritik immer ein Schritt weiter als das Feuilleton es sein kann.

Lass Dir Katalogtexte nie von Freunden und Bekannten schreiben.

Schreibe entweder selber oder interessiere Dich nicht dafür.

Stelle den Kunstbetrieb immer infrage, schimpfe über ihn, mache ihn lächerlich; aber Vorsicht: Überschreite niemals seine Grenzen, bewege Dich nie außerhalb der Kunst, habe Dich insbesondere auf Vernissagen im Griff!

Provoziere mit dem Konsens, nie gegen ihn.

Widerspreche Deiner eigenen Arbeit.

Erkläre entweder alles, was Du machst, oder gar nichts.

Liebäugle schon jetzt mit Deinem baldigen Scheitern.

Hebe in sichtbaren Sprüngen Deinen Lebensstil.

Bleibe sportlich, wenigstens in Deiner Kleidung.

Roger Behrens ist Philosoph und Sozialwissenschaftler. Seine Arbeitsgebiete sind die kritische Theorie der Gesellschaft sowie die Philosophie und Ästhetik der Moderne und Postmoderne. Er publiziert im Ventil-Verlag und in der Zeitschrift Phase 2 und ist Mitherausgeber der Zeitschrift Testcard.