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Surrealismus und Revolution
Ein historisch-assoziativer Rückblick auf den Surrealismus
mit einem Augenzwinkern als Ausblick

Alexander Emanuely

Die Welt, das Leben ändern…

Am 24. Juni 1935 hielt André Breton als letzter Redner, ganz spät in der Nacht, da man ihn eigentlich gar nicht hatte auftreten lassen wollen, seinen Vortrag am von der Kommunistischen Partei Frankreichs organisierten »Ersten Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur« in Paris. Diese Rede sollte seine Trennung von der Kommunistischen Partei, der er 1927 beigetreten war, besiegeln. Der Rede voran gegangen war der Selbstmord des surrealistischen Dichters René Crevel, der den zu erwartenden Bruch der SurrealistInnen mit der KPF nicht ertragen wollte und, bevor er seinen Gashahn aufdrehte, schrieb: »Alles ekelt mich an!«. Der Rede voran gegangen war eine über 10-jährige Aktivität André Bretons, als einer jener Männer, der die Kunst in den Dienst der Revolution stellen wollte, ganz im Sinne des letzten Satzes seiner 1935 gehaltenen Ansprache, vor einem demonstrativ schon fast leerem Saal, bevor die VeranstalterInnen das Licht abdrehten, der lautet: »›Die Welt verändern‹, hat Marx gesagt; ›das Leben ändern‹, hat Rimbaud gesagt: Diese beiden Losungen sind für uns das einzige.« (Becker 1998, 97)

Mit diesem letzten Satz ist die Richtung gezeichnet, in die der Surrealismus seit 1924 gegangen war. Konsumiert man heute die Kunst der SurrealistInnen, so wird meistens vergessen, dass es sich bei ihnen um Künstler handelte – Künstlerinnen durften nur am Rande aktiv sein, Frauen generell nur als Musen, als Ein– und Ausreden einer revolutionären Liebe, eigentlich waren die Surrealisten ziemliche Männerbündler (Hörner 1998), man kann durchaus sagen Machos – die sich dem Umsturz der bestehenden Verhältnisse auf den verschiedensten künstlerischen und politischen Ebenen verschrieben hatten. Um jedoch über die surrealistische Avantgarde und ihr Verhältnis zu Kunst und Politik, ihre ganz spezielle Rolle im Paris der 20er und 30er Jahre verstehen zu können, muss zuerst einmal die Situation der französischen Intellektuellen dieser Zeit im Allgemeinen erklärt werden. Von diesem Überblick ausgehend können die Fragen gestellt werden, was damals Surrealismus bewirkt hat und was heute Surrealismus noch bedeuten kann oder soll.

Die Intellektuellen dieser Zeit waren im Wesentlichen mit einer Frage konfrontiert: wie kann eine Demokratie, wie die französische, die es seit spätestens den 1880er Jahren immer wieder geschafft hat, ihre humanistischen Grundwerte zu verteidigen, die den Einfluss der Kirche und die Gewalt der AntisemitInnen relativ erfolgreich bekämpft hat, einen Ersten Weltkrieg zulassen, einen Krieg, der massiv viele Menschenleben gefordert hat (von manchen Abschlussklassen von 1914 hatten gerade die Hälfte der Schüler den Krieg überlebt), einen Krieg, der ganze Regionen verwüstet, der viele FranzösInnen bis hin zur Lethargie traumatisiert hat, durchaus auch jene, die anfangs diesen Krieg, die Möglichkeit der Revanche für 1870 begrüßt hatten. Denn das Gemetzel vor Verdun schien unvereinbar mit dem, wofür die III. Republik angetreten war, zumindest jene bürgerlichen, linksliberalen Kräfte in ihr, welche über Jahrzehnte die Innenpolitik des Landes geprägt hatten. Wie ist ein Georges Clemenceau zu verstehen, der seine Zeitschrift L' Aurore 1898 zum Massenmedium für Hauptmann Alfred Dreyfus und gegen den Antisemitismus eingesetzt hat, der später als Senator radikal für die Trennung von Kirche und Staat eingetreten war, dann plötzlich als Innenminister auf ArbeiterInnen schießen ließ und 1917 schlussendlich jener Regierungschef wurde, der Frankreich zum Sieg »führte« und zwar durchaus mit einer massiv chauvinistischen und populistisch, kriegshetzerischen Politik? Nicht umsonst wurde Clemenceau von den SurrealistInnen Schande–Clemenceau genannt. Der Anarchist Emile Cottin kann wohl diese Widersprüche einer humanistischen Unmenschlichkeit nicht akzeptieren und verübt auf Clemenceau am 19. Februar 1919 ein Attentat. Clemenceau überlebt die drei Kugeln in seinem Körper und setzt sich dafür ein, dass Emile Cottin, der am 14. März 1919 zum Tode verurteilt wird, nicht hingerichtet wird.

Am 8. März 1919 treffen sich zum ersten Mal die beiden werdenden Dichter André Breton und Paul Eluard in Paris, am 19. März 1919 erscheint die erste Nummer der dadaistischen Zeitschrift Littérature, von André Breton, Louis Aragon und anderen Schriftstellern (es war keine Frau dabei) herausgegeben. André Breton, Louis Aragon und Paul Eluard haben gerade die Schrecken des Krieges überlebt, alle drei als Sanitäter. Sie haben nach dem Krieg den Dadaismus entdeckt und haben alle ihre bürgerlichen Lebenspläne aufgegeben, um sich mit Hilfe der Kunst gegen die Welt der Väter – wie Jean–Paul Sartre später einmal schreiben wird (Sartre 1985, 188) – zu stellen. Emil Cottin war mit ziemlicher Sicherheit Gesprächsstoff zwischen den jungen Männern, welche den Anarchismus generell bewundert hatten, genauso wie sie die Oktoberrevolution begrüßt und bald die Gründung der KPF – eigentlich der Französischen Sektion der Kommunistischen Internationale – am 30. Dezember 1920 mit Spannung verfolgt hatten.

Wir sind gewiss Barbaren…

Doch nicht nur die jungen SurrealistInnen suchten neue Wege und nicht alle kriegstraumatisierten FranzösInnen fanden eine Alternative im libertären und sonstigem Kommunismus. Spätestens das Auftauchen Mussolinis Anfang der 20er Jahre bot eigentlich den meisten Intellektuellen Frankreichs eine Alternative zum »linken« Weg. Bei ihrer Suche nach Lösungen, um ihre Verweigerung der Gesellschaft gegenüber Ausdruck zu verleihen, waren fast alle Möglichkeiten recht, auch und gerade der Faschismus. In ihm konnte sich Antikapitalismus, Antiliberalismus und Antirationalismus (Ory 1992, 90) genauso gut ausleben, vielleicht sogar besser – bedenkt man, dass die Sehnsucht nach einer starken Bewegung, nach einem sich Auflösen in einem totalitären Ganzen, einer absoluten Gemeinschaft für viele Menschen einfacher zu bewerkstelligen war und wohl noch ist, als ein komplizierter, widersprüchlicher, individualistischer, einsamer Gang gegen die – im Falle Frankreichs – bürgerliche, liberale Gesellschaft, die eigentlich ebenfalls stark auf Individualismus, zumindest solange sie keine Krieg zu führen hatte, gesetzt hat. Drieu la Rochelle und Louis–Ferdinand Céline gehören zu jenen Autoren, die eindeutig den Weg nach Rechts gegangen sind, Céline als mordhetzender Antisemit unter Vichy und gefeierter Nachkriegsautor unter jenen, die nur sein Frühwerk sehen wollten. Jedenfalls gehört er heute mit seinem 1932 erschienen Antikriegsroman »Reise ans Ende der Nacht«, der noch dazu 1936 von Louis Aragon und seiner Frau, der russischen Schriftstellerin Elsa Triolet, ins Russische übersetzt worden ist, zum Olymp der französischen Literatur.

Es ist jedenfalls ein Faktum, dass unter den Studierenden Frankreichs nach dem Ersten Weltkrieg die Anzahl jener eher gering war, die sich mit Marx auseinandersetzten oder sich gar mit seiner Arbeit identifizieren wollten. Wenn sie gegen den Strom schwammen, dann eher als MonarchistInnen, AntisemitInnen und FaschistInnen. Jene jungen Männer, die sich im langsam heran bildenden Surrealismus artikulierten, der sich erst 1924 vom Dadaismus abspalten sollte, suchten jedoch von Anfang an nach Marx, Freud und Rimbaud. Sie bildeten im Gegensatz zu vielen anderen jungen Menschen ein klar linksextremes Projekt voran.

André Breton, Antonin Artaud, Michel Leiris wurden jedoch auch dafür berühmt, dass sie sich für das scheinbar Irrationale, Esoterische und Mythische, aber vor allem für das sogenannte »Primitive« interessierten, wie für afrikanische, ozeanische oder keltische Kunst und Kultur. Dabei ging es in erster Linie darum, wie andere Gesellschaften Kunst ein– und umsetzen, wie anderen Orts oder anderer Zeit Verschmelzung von Kunst und Lebenspraxis möglich ist und war. Bretons Wohnung war verhängt mit afrikanischen Masken, und er selbst rannte gerne in grünem Anzug herum und aß und trank nur Grünes, weil Grün die Farbe der Kelten gewesen sein soll, und im amerikanischen Exil wird Breton sich stark mit den Hopi IndianerInnen auseinandersetzen. Antonin Artaud und Michel Leiris werden sich Anfang der 30er Jahre der Dakar-Djibouti-Forschungsreise von Marcel Griaul anschließen und in Folge Phantom Afrika schreiben.

Von der Zeitschrift Littérature ging es dann zur Zeitschrift Clarté, bis 1924 die Zeitschrift La Révolution Surréaliste gegründet wurde. Während erstere noch dem Dadaismus verschrieben war, bot zweitere eine gemeinsame Diskussionsbasis mit Intellektuellen, wie Pierre Naville, der zuerst einige SurrealistInnen in die KPF drängte, dann die gleichen einige Jahre später Trotzki näher brachte und schließlich selbst einer der wichtigsten Exponenten der Psychoanalyse in Frankreich wurde. In der Zeitschrift La Révolution Surréaliste sollten dann die Erkenntnisse der Zeit zwischen 1919 und 1924, zu der auch die Trennung von Dada gehörte, zusammenfließen. Dabei ging es um Selbstmord, Liebe, Revolution, Esoterik, Bildende Kunst, Poesie, Luis Buñuel, Charlie Chaplin und die Marx Brothers und Manifeste.

Als die Welt zwischen Surrealismus und Kommunismus noch in Ordnung war, erschien 1925 in der L‘Humanité, dem zentralen Organ der KPF, der von einer ganzen Reihe von Menschen unterzeichnete Aufruf Zuerst und immer die Revolution! – er lässt in Kürze wohl am besten einen Einblick in das gewinnen, was die SurrealistInnen eigentlich wollten:

»Wir sind ganz gewiß Barbaren, da uns eine bestimmte Form von Zivilisation anekelt. [Nämlich jene Zivilisation, die die] Menschenwürde auf die Stufe eines Tauschwerts [herabzieht, jene Zivilisation, die den Geist] in den viehischsten und unphilosophischsten Begriff [der] Idee des Vaterlandes [zu zwängen versucht, jene Zivilisation, die sich auf der] Sklaverei der Arbeit [aufbaut.] Wir akzeptieren die Gesetze der Ökonomie und des Tauschhandels nicht, wir akzeptieren nicht die Sklaverei der Arbeit, und auf einem noch weitläufigeren Gebiet erklären wir uns als im Aufstand gegen die Geschichte befindlich. Die Geschichte wird von Gesetzen gesteuert, deren Voraussetzung die Trägheit der Einzelnen ist […].« (in Becker 1998, 35f)

Und die zu dieser Zeit Paris besuchenden oder nach Paris ziehenden deutschen Intellektuellen und Künstler wie Walter Benjamin oder Georges Grosz schrieben über die SurealistInnen Folgendes; Walter Benjamin:

»Seit Bakunin hat es in Europa keinen radikalen Begriff von Freiheit mehr gegeben. Die Sürrealisten haben ihn. Sie sind die ersten, das liberale moralisch–humanistisch verkalkte Freiheitsideal zu erledigen, weil ihnen feststeht, daß ›die Freiheit, die auf dieser Erde nur mit tausend härtesten Opfern erkauft werden kann, uneingeschränkt, in ihrer Fülle und ohne jegliche pragmatische Berechnung will genossen werden, solange sie dauert.‹ Und das beweist ihnen, »daß der Befreiungskampf der Menschheit in seiner schlichtesten revolutionären Gestalt (die doch, und gerade, die Befreiung in jeder Hinsicht ist), die einzige Sache bleibt, der zu dienen sich lohnt […] Die Kräfte des Rausches für die Revolution zu gewinnen, darum kreist der Sürrealismus in allen Büchern und Unternehmen.« (Benjamin 1991, 306f)

Und George Grosz 1925:

»In Wahrheit richtet sich die französische Kulturproduktion wie bei uns nach den Bedürfnissen der bürgerlichen Interessen. Dessen sind sich die Pariser Künstler bis auf verschwindende Ausnahmen (Gruppe Clarté) ebensowenig bewußt, wie ihre deutschen Kollegen.« (Grosz 1993, 42)

Doch wie wollte der Surrealismus konkret voran gehen, um die Revolution zu ermöglichen? Zuerst einmal hatte man den Pessimismus zu organisieren, ihn täglich bis zur Revolution voran zu treiben, bis zurendgültigen Überspannung, die dann alles zerreißt. Denn im Pessimismus liegen die Voraussetzungen der Revolution. Es muss alles aufgezeigt werden, was in der Welt existiert, nicht in einer linearen Dokumentation, sondern in assoziativen Montagen und Collages, in Bildwelten, die eigentlich alle GestalterInnen und BetrachterInnen – solange es diese beiden Gruppen noch gibt – zumindest auf der Ebene des Unterbewussten nachvollziehen können. Diese Montagen und Collages werden heute als Kunst bezeichnet, doch waren die SurrealistInnen Feinde der Kunst, ganz so, wie es später Peter Bürger in seiner Theorie der Avantgarde beschreiben sollte:

»Die europäische Avantgardebewegungen lassen sich bestimmen als Angriff auf den Status der Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft. Negiert wird nicht eine voraufgegangene Ausprägung der Kunst (ein Stil), sondern die Institution Kunst als eine von der Lebenspraxis der Menschen abgehobene. […] [Da] die Kunst von der Lebenspraxis abgehoben ist, können in sie all jene Bedürfnisse Eingang finden, deren Befriedigung im alltäglichen Dasein aufgrund des alle Lebensbereiche durchdringenden Konkurrenzprinzips unmöglich ist. Werte wie Menschlichkeit, Freude, Wahrheit, Solidarität werden gleichsam aus dem wirklichen Leben abgedrängt und bewahrt in der Kunst. […] indem sie das Bild einer besseren Ordnung im Schein der Fiktion verwirklicht, entlastet sie die bestehende Gesellschaft vom Druck der auf Veränderung gerichteten Kräfte.« (Bürger 1974, S.66ff)

Die Aufhebung der Kunst kann sich somit durchaus mit jener der Religion vergleichen, wie sie Karl Marx formuliert hat:

»Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusion über einen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf.« (Marx / Engels 1976, 379)

Das Gedicht… gemordet…

Spätestens ab 1933 wurde jedoch den linken Intellektuellen klar, dass der Faschismus und vor allem der Nationalsozialismus die konkrete Gefahr für die Menschheit und die notwendige Revolution darstellen. Da bis Anfang der 30er Jahre für viele Linke in Frankreich, vor allem aber für die SurrealistInnen, die bürgerliche Gesellschaft Basis und Grund des Faschismus darstellten, konnten sie nicht nachvollziehen, dass 1935 die Heimat der Revolution, die Sowjetunion, mit Frankreich einen Beistandspakt gegen Deutschland schließen konnte. Und in der eingangs erwähnten Rede André Bretons von 1935 sagt er auch, dass Hitlerdeutschland nicht durch einen Krieg bezwungen werden soll und kann, dass der Friede um jeden Preis erhalten werden muss und ein Beistandspakt eher hin zum Krieg führt und die Sowjetunion zur Kriegstreiberin, zur Beihelferin einer bürgerlichen, »imperialistischen« Politik macht. Ernst Toller konnte selbst nicht aus seinem damaligen Londoner Exil nach Paris, doch seine Grußbotschaft für den Kongress spricht natürlich eine andere Sprache, als die André Bretons, nämlich die eines Menschen, der schon direkt der Nazibrutalität ausgesetzt war »Wo immer wir der Ungerechtigkeit begegnen, müssen wir sie bekämpfen.« (Paris 1935. 1982, 404). André Breton sollte diese Erfahrungen erst einige Jahre später machen. Aber vielleicht konnte damals noch Breton seine Gewaltphantasien nur gegen die Welt der Väter richten und Hitler war gerade einmal ein paar Jahre älter als er selbst – also keine passende und zu bekämpfende Vaterfigur. Jedenfalls hat André Breton 1935 jene Fehleinschätzung getroffen, die besagte, dass die Nazis sich höchstens sechs Monate halten werden. Er glaubte wohl, dass sie von einer Revolution der deutschen ArbeiterInnen zu Fall gebracht werden könnten, so wie viele bürgerlichen AntifaschistInnen lange dachten, dass sich in der »Kulturnation« Deutschland der Nationalsozialismus von selbst erledigt.

Es sollte noch einige Jahre dauern, bis die meisten GegnerInnen eines kriegerischen Konflikts gegen Nazideutschland, wie André Breton, einsehen sollten, dass Hitler, so wie es der Romancier und ehemalige Pazifist Romain Rolland trefflich formuliert hatte, nicht durch Sitzstreik saufzuhalten sei, sondern nur durch die Vereinigung all jener politischen Kräfte, für die der Faschismus eine ultimative Bedrohung darstellt, und nur durch, auch militärische Gewalt. Jedenfalls hatte Ernst Toller, der direkt aus der Hölle Deutschland gekommen war, wo viele seiner Weggefährten, wie Erich Mühsam schon brutal ermordet worden waren, dies so verstanden. André Breton änderte seine Einstellung in Anbetracht des Zweiten Weltkriegs und der Vernichtungsmaschinerie der Nazis, um 1942 vom New Yorker Exil aus – wo sich inzwischen Ernst Toller Ende Mai 1939 aus Verzweiflung das Leben genommen hatte – als Speaker der französischen Sendungen des Radiosenders des Office of War Information: Voice of America zu arbeiten, der neben der BBC die wohl wichtigste mediale Waffe gegen Nazideutschland und das zentrale Sprachrohr für die Flüchtlinge aus Europa wird. Dass André Breton die Naziverfolgung überlebt hat, mag ihn zu Denken gegeben haben, dass er sein Überleben, wie Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger, Alma Mahler–Werfel, Franz Werfel, Max Ernst, Marc Chagall, André Masson, Alfred Polgar und Heinrich Mann dem linken, aber eher »bürgerlichen« amerikanischen Journalisten Varian Fry zu verdanken hat, der eine Rettungsaktion für über 2.000 in Marseille fest sitzende und von den Nazis verfolgte Intellektuellen gestartet hat. Vielleicht war André Breton zum gleichen Schluss wie Carl Einstein gekommen, der schon 1938 in Anbetracht der mörderischen Gewalt der FaschistInnen, die auch ihn morden sollten, geschrieben hat:

»Heute Kunst zu machen, das ist grundsätzlich ein Vorwand, um der Gefahr auszuweichen. […] Die Maschinengewehre machen sich über die Gedichte und die Gemälde lustig. Mit allen Umschreibungen ist es vorbei.« (Einstein 1993, 162).

Die ehemaligen Weggefährten des Surrealismus Louis Aragon und Paul Eluard waren 1935 in der KPF geblieben, hatten sich offiziell von André Breton getrennt und waren während des Zweiten Weltkriegs aktiv in der Résistance in Frankreich tätig.

Die Schatten

»Le surréalisme est encore un acteur sans voix. Cependant, sa grande ombre ne cesse pas d'exister, et son existence propre sera toujours pour nous la commune mesure où se réduiront d'autres désirs.« »Der Surrealismus ist noch immer ein Akteur ohne Stimme. Doch sein großer Schatten hört nicht auf zu existieren und seine Existenz wird für uns immer der gemeinsame Nenner bleiben, bei dem sich andere Begehren auflösen.« Pierre Naville, 1927 (Naville 1975, 98 – eigene Übersetzung)

Bedeutend für die ZeitgenossInnen waren die surrealistischen Interventionen deshalb, weil sie fast immer gelungene Inszenierungen, ganz in der Tradition der futuristischen, cravanischen und dadaistischen Provokation stehend, waren und meistens eine breite Aufmerksamkeit, Entsetzen und Schockreaktionen auf sich zogen. Jede Ausstellung wurde zur »Kriegsmaschine«, wie die Surrealistin Annie Le Brun es formulierte (Le Brun 2002). Natürlich waren die Ressourcen und die direkte Einflussnahme sehr beschränkt, doch ist das linke und antifaschistische Politikfeld Frankreichs, ohne die SurrealistInnen zu erwähnen, gar nicht beschreibbar.

Was die surrealistischen Schocks versucht haben, war, auf den »absoluten Wahnsinn« hinzuweisen, der sich gerade in den 30er Jahren immer mehr ausbreitete, darin liegt der hauptsächliche Einfluss auf die ZeitgenossInnen der SurrealistInnen, die sicher nicht die einzigen waren, doch zählen sie zu den manchmal auffälligsten HinweiserInnen.

»Die Umwendung hängt davon ab, ob die Beherrschten im Angesicht des absoluten Wahnsinns ihrer selbst mächtig werden und ihm Einhalt gebieten.« (Horkheimer / Adorno 1995, 209)

Das Angesichtmachen dieses Wahnsinns und der Wille nach der »Umwendung«, damit die Menschen ihrer selbst mächtig werden, können als ursprünglichstes und eigentliches Ziel der SurrealistInnen gelten. Doch in den letzten Jahren vor dem Weltkrieg traf eigentlich schon das zu, was Adorno erst für die Zeit nach 1945, nach der Shoah festgestellt hatte:

»Nach der europäischen Katastrophe sind die surrealistischen Schocks kraftlos geworden.« (Adorno 1981, 102)

Die Büchervernichtung hatte die Menschenvernichtung angekündigt, ganz im Sinne Heinrich Heines und Guillaume Apollinaires, und die Maschinisierung des Lebens legte jene des Todes. André Breton und seine FreundInnen schienen, ihrem Verhalten nach, die beginnende Wirkungslosigkeit ihrer inszenierten Schocks einige Jahre vor dem Krieg erkannt zu haben und deshalb glichen die Aktionen der SurrealistInnen gegen Ende der 30er Jahre eher jenen von engagierten LiteratInnen und KünstlerInnen, denn jenen der umstürzlerisch und provokativ agierenden Avantgarde, als die sie einmal angetreten waren, mit allen subversiven Mitteln versuchend, der Geschichte ein Ende zu setzen – denn es war die Revolution gewesen, das Ende der Geschichte, welche für die SurrealistInnen einzig gültiges Resultat gegolten hätte. Stattdessen holte die SurrealistInnen jenes Schicksal der Intellektuellen ein, wie es Carl Einstein 1938 als Freiwilliger bei Durruti im Spanischen Bürgerkrieg brutal beschrieben hatte:

»Zusammengenommen besteht die lächerliche Rolle der Intellektuellen darin, daß sie die Tatsache nur stützen aber nicht schaffen können.« (Einstein 1993, 164)

Und in den Zeiten der Massenmobilisierungen, der Massenvernichtungen, also des sich realisiert habenden »absoluten Wahnsinns«, mögen die Phantasmen und Interventionen eines André Breton, Louis Aragon, eines Picassos oder die rege Kongresstätigkeit der unzähligen antifaschistisch politisierten SchriftstellerInnen–Vereinigungen und Gruppen »lächerlich« und hilflos gewirkt haben.

Der Versuch avantgardistischer Intellektueller Tatsachen zu schaffen versickerte in einer politischen Umwelt, die sich gegen diese Tatsachen mit allen Mitteln zu wehren verstand, indem sie diesen Intellektuellen – vorallem nach 1945 – den Platz von stützenden clercs – so werden die »HohepriesterInnen«, die MandarInnen der Intelligenz in Frankreich auch bezeichnet – zugestand und ihnen alle Möglichkeiten und Vornehmlichkeiten der Kulturindustrie bot und sie somit neutralisierte. Die persönlichen, institutionellen und publizistischen Kontakte der AvantgardistInnen zum Establishment, bzw. zu den Bevorzugten der Machtverteilung im System und ihre Stellung in der Intellektuellen Gesellschaft förderten sicherlich diese Neutralisierung. Auch war oft schon diesbezüglich der Weg geebnet – eben weil besagte VertreterInnen der Avantgarde im Vorfeld, in der »wilden Zeit«, wenn man so will, sich ein gewisses Renommee verschafft und somit das Interesse eines breiten Publikums und somit der Verlagshäuser, des Kunstmarktes, der Medien und der Politik geweckt hatten. Louis Aragon (ein für den Schulunterricht geeigneter Staatsdichter und Bestsellerautor, der trotz seiner Sympathien für die StudentInnen des Mai 68 und seines Protestes gegen den Einmarsch in Prag nicht aus dem ZK der KPF entfernt werden sollte) stellt wohl jenen dar, der in die Rolle des »stützenden« clerc schlüpfte, und Salvador Dali, welcher schon frühzeitig begann sein Werk erfolgreich zu kommerzialisieren und den politischen Aspekt ins Lächerliche zu ziehen, stellt jenen dar, der sich gänzlich der Kulturindustrie hingab und dafür folglich von André Breton den anagrammistischen Spitznamen »Avida Dollars« verpasst bekam (vgl. Dupuis 1988, 41).

Die Aktionen der SurrealistInnen gingen nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer Kontinuität und ähnlichen Vehemenz und Entdeckungslust weiter wie vor 1939. André Breton entdeckte für die kritische Linke in den 50er Jahren wieder Charles Fourier, man setzte sich für das Weltbürgertum ein und rief wie 1925 zur Wehrdienstverweigerung in den Kolonialkriegen auf und auch wenn sich die Gruppe offiziell 1969 auflöste, so blieb diese Fortsetzung nach dem Krieg nicht ohne Einfluss auf den beginnenden Existenzialismus, auf die Situationistische Internationale, die wieder auflebenden 'Pataphysique oder auf das Theater des Absurden und schlussendlich auf die Revoltierten des Jahres 1968 - dazu zählt Herbert Marcuses »Große Verweigerung« oder Slogans des Mai 68 in Paris, wie: »Die Kunst ist tot, verzehrt nicht ihre Leiche!« oder »Die Kunst ist tot, befreien wir unseren Alltag!« (Slogans et graffitit, users.skynet.be / ddz / mai68). Doch die Avantgarde nach 1945 konnte nicht mehr mit Schocks oder Revolution auf den »absoluten Wahnsinn« hinweisen, denn dieser hatte sich außerhalb der Kunst und Abstraktion, einem Alptraum gleich, selbst realisiert, noch dazu ohne dass sich eine Selbstbemächtigung der Beherrschten wirklich vollzogen hätte. So viele Jahrzehnte nach dem Ende der Shoah gibt es nach wie vor AntisemitInnen, NationalsozialistInnen und Menschen, die dem Wahnsinn gegenüber eher offen stehen, als daß sie sich um eine Umwendung bemühten – ein absurder Zustand. Die Avantgarde nach 45 fand ihre Ausdruckskraft dann auch im Ausdruck dieses Absurden, wie es Samuel Becketts resignativer Widerstand, den seine Werke ausdrücken, zeigt, denn:

»Sie genießen den heute einzig menschenwürdigen Ruhm: alle schaudern davor zurück, und doch kann keiner sich ausreden, daß die exzentrischen Stücke und Romane von dem handeln, was alle wissen und keiner Wort haben will.« (Adorno 1981, 425)

Trotzdem trifft das, was Adorno in seinem Essay Engagement (Adorno, 1981, S.409–430) neben Beckett über Franz Kafka sagt, für mich auch auf die surrealistischen Werke zu:

Wen einmal Kafkas Räder überführen, dem ist der Friede mit der Welt ebenso verloren wie die Möglichkeit, bei dem Urteil sich zu bescheiden, der Weltlauf sei schlecht: das bestätigende Moment ist weggeätzt, das der resignierten Feststellung von der Übermacht des Bösen innewohnt. (Adorno 1981, 426)

Die SurrealistInnen haben universelle und somit nachhaltige Akzente gesetzt. Sie konnten zwar weder die erhoffte Revolution ermöglichen noch den »absoluten Wahnsinn« verhindern. Doch wenn man sich auf viele ihrer Arbeiten einläßt, dann ahnt, weiß man bald, dass eine Verzauberung, radikale Bedürfnisse, ein Überfahren–werden, ein anderes Leben und eine andere Welt, die »Große Verweigerung« im Hier und Jetzt formulierbar und umsetzbar sind.

 
 

Literatur

Adorno, Theodor W. (1981): Rückblick auf den Surrealismus (101-105) & Engagement (409-430). In Noten zur Literatur. Frankfurt / Main.

Becker, Heribert (Hg.) (1998): Es brennt ! Pamphlete der Surrealisten, Hamburg.

Benjamin, Walter (1991): Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz. In Gesammelte Schriften. Band II., Frankfurt / Main, 295-310.

Bürger, Peter (1974): Theorie der Avantgarde, Frankfurt / Main.

Dupuis, Jules–François (1988). Histoire désinvolte du Surréalisme. Paris.

Einstein, Carl (1993): Sterben des Komis Meyers. Prosa und Schriften. München.

Grosz, George (1993): Pariser Eindrücke. In Europa Almanach – 1925. Leipzig. 42–46.

Horkheimer, Max, Theodor W. Adorno (1995) Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt / Main.

Hörner, Unda (1998): Die realen Frauen der Surrealisten, Frankfurt / Main.

Le Brun, Annie (2002): Die usurpierte Revolution. In: Die Aktion – Zeitschrift für Politik, Literatur, Kunst. Ausgabe II / 2002, 22. Jahr. Gefunden auf forum.psrabel.com/dokumente/le_brun.html am 29.10.2009 um 20h33.

Marx, Karl, Friedrich Engels (1976). Werke. Band 1. Berlin.

Naville, Pierre (1975) : La révolution et les intellectuels. Paris.

Ory, Pascal, Jean–François Sirinelli (1992) Les intellectuels en France. De l'affaire Dreyfus à nos jours, Paris.

Paris 1935 (1982): Erster Internationaler Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur. Reden und Dokumente. Mit Materialien der Londoner Schriftstellerkonferenz 1936. Berlin.

Sartre, Jean-Paul (1985). Qu'est-ce que la littérature ? Paris.

Slogans et graffitit: gefunden auf users.skynet.be/ddz/mai68/, am 30.10.2009 um 12h52.