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Lautréamonts Détournement als Destruktionsmodell der Moderne
(literarischer) Communismus

Christopher Zwi & RG Dupuis

Über Lautréamont ist vieles geschrieben worden, über diesen Todesengel, Sprengstoffattentäter und Totengräber der Literatur. Generationen von Experten sind jedem einzelnen Satz seines rätselhaften Werks nachgestiegen und haben dicke Bücher mit ihren Entdeckungen gefüllt. Man weiß heute, dass er eine Vorlesung über »Das Problem des Bösen« gehört, wo er gewohnt und dass er Klavier gespielt hat. Und dergleichen Einzelheiten mehr.

Wir werden hier nur Weniges davon aufgreifen und hauptsächlich uns darauf konzentrieren, eine Theorie seiner Technik des Détournement zu skizzieren, die er selbst noch als Plagiat bezeichnet. Dazu ist seit 50 Jahren kaum etwas Nennenswertes gesagt worden, trotzdem Lautréamont diese Technik bereits im 19ten Jahrhundert zu heute noch atemberaubender Meisterschaft entwickelt hat. Er ist auf diesem Weg so weit vorangeschritten, dass er selbst von seinen offensten Bewunderern noch unverstanden bleibt. Gleichwohl ist diese Technik - unbewusst, spontan, sinnlos - verbreiteter als je. Z.B. in der Werbung oder auch in der gegenwärtigen Kunschtproduktion - überall dieselben geklebten Fetzen und derselbe zusammengeschweißte Schrott. Auf deutsch könnte man Détournement als »Zweckentfremdung« oder »Entwendung« übersetzen. Wir werden beide Übersetzungen manchmal verwenden, gemeint ist dann immer das Détournement, wie wir es im Folgenden darzustellen versuchen.

1. Gesang: Maldoror und die Dialektik der Aufklärung

» Wenn der Internatsschüler eines Gymnasiums Jahre hindurch, die Jahrhunderte sind, von morgens bis abends, von abends bis zum folgenden Tag von einem Paria der Zivilisation regiert wird, der ihn nicht aus den Augen lässt, so fühlt er, wie ihm stürmische Fluten heftigen Hasses gleich dickem Rauch ins Gehirn steigen, das nahe am Zerspringen ist.«

»Die Läuse sind unfähig, so viel Böses zu tun, wie ihre Phantasie im Schilde führt. (…) ich bin schon über die Menge des Bösen froh, das sie dir, o Menschenrasse, antut; nur wünschte ich, sie würde dir mehr antun. (…) was mich betrifft, so habe ich eine Gruft von vierzig Quadratmeilen und einer entsprechenden Tiefe graben lassen. Dort ruht in unreiner Jungfräulichkeit eine lebendige Mine von Läusen. (…) Alle fünfzehn Jahre nimmt die Zahl der Läusegeschlechter, die sich vom Menschen nähren, sehr stark ab, und sie selbst sagen als unfehlbar voraus, dass die Zeit ihrer vollständigen Vernichtung nahe sei. Denn es gelingt dem Menschen, da er klüger ist als sein Feind, ihn zu besiegen. Dann fördere ich mit einer Höllenschaufel, die meine Kräfte steigert, aus dieser unerschöpflichen Mine Blöcke von Läusen zutage, wie Berge so groß, zerschlage sie mit Axthieben und schaffe sie im Laufe finsterer Nächte in die Arterien der Städte (…) und bringe den Terror an die Stätte des Schlafes. (…) So fallen Millionen Feinde, gleich Wolken von Heuschrecken, über jede Stadt her. Sie reichen für fünfzehn Jahre. Sie werden den Menschen bekämpfen, indem sie ihm brennende Wunden schlagen. Nach dieser Zeit werde ich neue schicken. Wenn ich die Blöcke belebter Materie zerstoße, kann es vorkommen, dass ein Bruchstück von größerer Dichte ist als ein anderes. Seine Atome geben sich rasende Mühe, ihre Siedlung abzuspalten, um hinzugehen und die Menschheit zu quälen; dem widersteht aber die Festigkeit der blinden Kraft. Durch eine letzte Erschütterung bringen sie einen solchen Druck hervor, dass der Stein, da er seine lebendigen Urzellen nicht zertrümmern kann, sich selbst hoch in die Luft schleudert, als würde er von Pulver gesprengt, wieder herabfällt und sich fest in den Erdboden bohrt. (…) Wenn die Erde mit Läusen bedeckt wäre wie der Meeresstrand mit Sandkörnern, dann würde die menschliche Rasse vernichtet werden, Beute furchtbarer Schmerzen. Welch ein Schauspiel! Ich mit Engelsflügeln, unbeweglich in den Lüften, um es zu betrachten.«

Unter der bekannten Geschichte Europas läuft eine unterirdische. Sie besteht im Schicksal der durch die Zivilisation entstellten menschlichen Triebe und Leidenschaften. Lautréamont verschafft in seiner Dichtung dieser Geschichte Gehör. Er ist der Dichter der Muskeln und des Schreis. In seinen »Gesängen des Maldoror« führt er – so kann man sagen – sein Unbewusstes gegen die herrschenden Ideen vom Guten ins Feld. Sichtbar wird dabei das, was man das Böse genannt hat. Als jenes erscheint das negative Prinzip, welches das Bestehende zerstören will. Das Böse als die negative Seite des Bestehenden speist sich aus der genannten Entstellung der menschlichen Triebe und Leidenschaften. Insbesondere die kapitalistisch produzierende Gesellschaft bringt dieses negative Prinzip hervor, indem sie eine Welt produktiver Anlagen schafft, und diese zugleich verkrüppelt, wie Marx konstatiert. Die bestehenden Eigentumsverhältnisse verhindern, dass diese Triebe und Anlagen realisiert werden können. Die kapitalistische Produktionsweise bedingt eine der Akkumulation von Kapital entsprechende Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d.h. auf Seite der Klasse, die ihr eigenes Produkt als Kapital produziert. Das negative Prinzip der bestehenden Gesellschaftsordnung kann man folglich auch das Proletariat nennen. Das Proletariat ist die destruktive Partei.

Lautréamont war von dieser Dialektik des Guten und Bösen fasziniert. Die Philosophen und politischen Ökonomen der bürgerlichen Gesellschaft wollen stets das Gute, die Industrialisierung und Zivilisation, aber schaffen das Gegenteil dessen, wovon sie ausgegangen sind: dem größtmöglichen Glücksanspruch für die größtmögliche Zahl. Lautréamont kehrt die Ideologie der guten Absicht um: Seine Figur Maldoror will stets das Böse, aber schafft das Gute als neue Positivität. Maldoror führt in verschiedenen Masken und Metamorphosen eine Schlacht gegen die »menschliche Kreatur«, besser gesagt: den selbstzufriedenen Bürger. Sein erklärtes Ziel ist es, »Gott« und die Menschen in ihrer Schlechtigkeit zu übertreffen. Seine Mittel hierzu lauten: Ängste, Wirrnisse, Entwürdigungen, Grimasse, Herrschaft der Ausnahme und des Absonderlichen, Dunkelheit, wühlende Phantasie, das Finstere und Düstere, Zerreißen in äußerste Gegensätze, Hang zum Nichts, infernalische Grausamkeit. Er hat das Gelübde abgelegt, »den Schöpfer« zu überwinden, Böses zu tun, um das Böse zu vernichten, Verbrechen zu begehen, um das Verbrechen aufzuheben. Das ist der Satanismus in den »Gesängen«.

Die Problematik der modernen Geschichte ist: die Fortexistenz des Mythos bei scheinbarem Siegeszug der Aufklärung in einer verdinglichten, das heisst zugleich entzauberten und weiter denn je verzauberten und verhexten Welt - und gleichzeitige Verdrängung dieses Spuks. Lautréamont will diese Verdrängung aufheben, indem er die dunkle Seite der Aufklärung entfesselt, das destruktive Prinzip in dieser Dialektik zur Erscheinung bringt. So auch die Surrealisten, die an seine Gesänge anknüpfen. Sie wollen die Bedeutung des Mythos in dieser versachlichten Welt geltend machen. Julien Gracq, ein Freund André Bretons, kennzeichnet diesen Zusammenhang in seinem sehr guten, aber leider etwas umständlichen Essay »Lautréamont toujours«: Die »Revolutionäre« seien fasziniert vom Gebrauch einer »tiefgründigen« Geschichtsauffassung, die das 19te Jahrhundert ihnen mit Marx hinterließ. Während sie »gewisse unmittelbare Antriebskräfte« der Geschichte vernachlässigten, die sich endgültig 1933 als Explosionskräfte erwiesen. Nichts anderes ist gemeint als die durch die Zivilisation entstellten menschlichen Triebe und Leidenschaften, wie sie sich in den Mythen ausdrücken, das modernisierte Archaische. Die explosive Regression des NS konnte sich auf diese Kräfte stützen. Dementgegen hatten etwa die KPs vor dem 2ten Weltkrieg - Gracq nennt sie unangemessenerweise »proletarische Revolutionäre« – den Menschen der Moderne aufgefordert, einen durchaus verlockenden Teil seines Selbst zurückzunehmen, um durch das Nadelöhr der sogenannten proletarischen Revolution zu gehen. So begründet Gracq auch indirekt den Bruch einiger Surrealisten mit der KP.

Die Möglichkeit eines unvermittelten, unsublimierten Durchbruchs der entstellten Triebe und Leidenschaften und die überschnelle Steigerung dieser destruktiven Kräfte, wie sie die moderne Technik einer Bewegung wie dem NS ermöglicht, legt den Gedanken nahe, daß die Lösung des Problems der Aufklärung nicht mehr lange hinausgeschoben werden kann. Nicht durch eine Unterwerfung des Irrationalen durch das Rationale, sondern, wie Adorno es sagt: durch die vernünftige, vernunftentgrenzende Gewalt. Die ihrer selbst mächtige, zur Gewalt werdende Aufklärung selbst vermöchte die Grenzen der Aufklärung zu durchbrechen.

Adorno und Horkheimer bleiben jedoch in einer Paradoxie: Sie tun sich schwer damit, die genannte Gewalt zu konkretisieren. Soll das bewaffnete Proletariat dieses Gewaltsubjekt des Aufklärungsdurchbruchs werden – als mögliche Klasse des Bewusstseins? Oder stattdessen der bürgerliche Staat als wirklicher Durchsetzer der zivilisatorischen Mission? Schwebt gar ein messianisches Drittes Subjekt der Erlösung vor als bildlos-utopische Konkretisierungsgestalt der Aufklärung? Die »Dialektik der Aufklärung« ist ein Fragment geblieben.

Auch der Surrealismus versucht dieses Problem zu lösen, wie bei Gracq – wozu mehr im 3. Gesang. Es ist auch das Problem, das die Situationisten mit ihrer programmatischen Revolution des alltäglichen Lebens vielleicht am konsequentesten zu lösen vorhatten - wozu mehr im 4. Gesang. Alle diese Ansätze, das Problem des Durchbrechens der Grenzen der Aufklärung zu lösen, leiden unter gewissen Borniertheiten oder Verdrängungen, die wir im folgenden zu skizzieren versuchen. Es ist das Problem, das Lautréamont in den »Gesängen« aufwirft: wie aus der Negation des Guten durch das Böse Gutes entstehe. In den »Poésies« versucht er als einer der ersten aus dieser Paradoxie einen Ausweg zu finden.

2. Gesang: Die extremistische Literaturkritik in den Poesien

Der (unbewusste) literarische Communismus, den Lautréamont mit seiner Plagiatorik praktiziert, vollzieht sich als Aufhebung des maldororschen Satanismus in die »Poésies« (»Ich verbessere darin sechs der schlechtesten Stellen meines verflixten Buches«). Mit ihrer Entwendung von Maximen und Aphorismen der Moralisten aus dem langen Kanon von Essays und Romanen sowie philosophischen und naturphilosopischen Werken durchbricht der Durcheinanderbringer den Bann der Schwarzen Romantik, löst er die Negativfixierung auf die göttliche und bürgerliche Ordnung und vermag diese gegen sich selbst zu wenden, stülpt sie aus ihrer eigenen Widersprüchlichkeit heraus um. Damit hat er teil an der wirklichen Bewegung, die den bestehenden Zustand aufhebt, auch wenn er dies am Ende des bonapartistischen Second Empire - kurz vor seinem frühen, geheimnisvollen Tod - nur erst noch literarisch wagt.

Doch seine souveräne Selbstbemächtigung gepaart mit List, wenn er die offene Entwendung proklamiert und das systematische Plagiieren, ist in der wirklichen Bewegung nur ein damals unbemerktes Vorspiel zu der Bemächtigung der politischen Gewalt und der Zerstörung der ganzen bürgerlichen Staatsmaschinerie durch das Pariser Proletariat. Walter Benjamin hat diese kollektive Schwellenüberschreitung in einer »Theorie des Erwachens« analysiert. Die Commune vom Frühjahr 1871 löst die gesamte bürgerliche Ordnung in Fete und bewaffnete Selbstverwaltung der ökonomischen Lebensbedingungen auf - für das Bourgeoisregime in Versailles und für das Bismarcksche Deutsch-Preussentum erhob hier das Böse, die Anarchie der Pöbelherrschaft ihr Haupt: die Zerstörung des Systems der Sittlichkeit und aller Kultur.

Doch kehren wir zur Erfindung der plagiatorischen Entwendungskunst des einsamen Lautréamont am Ende dessen zurück, was derselbe Benjamin als den Traumschlaf des Proletariats in der Hauptstadt des 19ten Jahrhunderts bezeichnet hat. Was bewog den Anti-Poeten des »Maldoror« zur Wendung in den »Poésies«?

Das Détournement als bloße Umkehrung ist stets das unmittelbarste und am wenigsten effiziente. Vielleicht war Lautréamont die satanistische Destruktion in den Gesängen zu plump und nicht gründlich genug, jedenfalls aber war er von der Wirkung seiner Maldoror-Experimente enttäuscht. Er probierte eine oberflächlich gesehen gegensätzliche Form in den Poesien aus, seinem »Vorwort zu einem zukünftigen Buch«. Dieses markiert den Beginn des Détournement auf theoretischem Gebiet und zugleich den Beginn des Détournement als konsequent angewandte Methode. Als größtenteils unbewusste und zufällige Technik des Plagiats war es schon damals verbreitet, so konstatierte Lautréamont selbst bereits: »Das Plagiat ist notwendig, der Fortschritt schließt es ein.« Aber Lautréamont plagiierte etwa die Moralismen bestimmter französischer Aufklärer, um sie ad absurdum zu führen, ihre Unwahrheit aufzuzeigen.

Er nimmt damit die Destruktion der bürgerlichen Moral durch die Pariser Communarden bereits vorweg. Sein »Vorwort zu einem zukünftigen Buch« wird so unverwandt zum Vorwort dieser ersten proletarischen Aneignungsbewegung.

» Man träumt nur, wenn man schläft. (…) Von Worten zu Gedanken ist nur ein Schritt. Die Umwälzungen, die Ängste, die Verderbtheiten, der Tod, die Ausnahmen in der physischen und moralischen Ordnung, der Geist der Negation, die Verdummung, die absichtlich erzeugten Sinnestäuschungen, die Sorgen, die Zerstörung, die Umstürze, die Tränen, die Unersättlichkeit, die Unterjochungen, die aushöhlenden Phantasien, die Romane, was unerwartet ist, was man nicht tun darf, die chemischen Eigenarten des geheimnisvollen Geiers, der das Aas irgendeiner toten Illusion belauert, die frühreifen und gescheiterten Erfahrungen, die Unklarheiten mit wanzenartigem Rückenpanzer, die furchtbare Monomanie des Hochmuts, das Einimpfen tiefer Verblüffung, die Leichenreden, der Neid, der Verrat, die Tyranneien, die Gottlosigkeiten, die Reizbarkeiten, die Bissigkeiten, die aggressiven mutwilligen Beleidigungen, der Wahnsinn, der Spleen, das begründete Entsetzen, die seltsame Unruhe, die der Leser lieber nicht zu spüren bekäme, die Grimassen, die Neurosen, die blutige Schule der Prüfungen, durch die man die aufs äußerste bedrängte Logik treibt, die Übertreibungen, das Fehlen der Aufrichtigkeit, die Sticheleien, die Plattheiten, das Düstere, das Grausige, die Geburten schlimmer als die Morde, die Leidenschaften, die Clique der Schwurgerichtsromanciers, die Tragödien, die Oden, die Melodramen, die endlos aufgetischten Extreme, das ungestrafte Auspfeifen der Vernunft, die Ausdünstungen des Angsthasen, die Fadheiten, die Frösche, die Kraken, die Haie, der Samum der Wüsten, was mondsüchtig, verdächtig, einschläfernd, nachtwandlerisch, klebrig, ein sprechender Seehund, zweideutig, schwindsüchtig ist, was zu Krämpfen reizt, was aphrodisisch, blutarm, einäugig, hermaphroditisch ist, der Bastard, der Albino, der Päderast, das Aquariumwunder und die Frau mit dem Bart, die trunkenen Stunden stillschweigender Mutlosigkeit, die Phantasien, die Bitterkeiten, die Ungeheuer, die demoralisierenden Syllogismen, der Unflat, was wie das Kind nicht nachdenkt, die Trostlosigkeit, dieser intellektuelle Manzanillabaum, die wohlriechenden Arten der Syphilis, die Kamelienschenkel, die Schuld eines Schriftstellers der die abschüssige Bahn des Nichts hinabrollt und sich selbst mit Freudenschreien verachtet, die Gewissensbisse, die Heucheleien, die vagen Aussichten die euch in ihren unmerklichen Zahnrädern zermalmen, das ernstliche Bespeien geheiligter Axiome, das Ungeziefer und sein einschmeichelndes Gekitzel, die sinnlosen Vorworte wie die zu Cromwell und zur Mademoiselle de Maupin und wie dasjenige von Dumas dem Jüngeren, die Gebrechlichkeiten, die Impotenzen, die Gotteslästerungen, die Asphyxien, die Erstickungsanfälle, die Wutausbrüche - vor diesen ekelerregenden Leichengruben, die zu nennen ich erröte, ist es endlich an der Zeit, dem, was uns abstößt und zutiefst demütigt, entgegenzuwirken.«

3. Gesang: Die Poesie im Dienste der Revolution

Wie schon angedeutet, haben dann die Surrealisten - an die Gesänge des Maldoror anknüpfend - vor allem die Techniken des »automatischen Schreibens« sowie der Collage zum Formprinzip einer Avantgardebewegung gemacht, die programmatisch die Kunst mit dem Alltagsleben und der Politik dergestalt vereinigen sollte, dass damit der communistischen Revolution zum Durchbruch zu verhelfen wäre. Vor allem setzten sie diese und andere Techniken ein, um das okkulte, unbewusste, zufällige Moment zu objektivieren. Sie glaubten noch, die bloße Darstellung dieser Schattenseite der aufgeklärten Gesellschaft müsse einen revolutionären Effekt haben.

Vom zerstörenden Charakter des Détournement bei Lautréamont hat der Surrealismus nur die ludistische Motivation behalten wollen. Die surrealistische Collage ist eine Verniedlichung des Détournement. Eigentlich ist die Collagetechnik nur ein besonderer Fall - ein zerstörendes Moment - des Détournement: sie stellt die Verlagerung dar, die Untreue des Elements. Das Détournement, wie es ursprünglich von Lautréamont formuliert wurde, ist eine Rückkehr zu einer höheren Treue des Elements. Aber die Collage des einfach entwerteten Elements wurde weit und breit angewandt, bevor sie sich im modernistischen Snobismus des zweckentfremdeten Gegenstandes (z.B. das zur Gewürzdose gemachte Schröpfglas) zur Pop-art-Doktrin konstituiert. Diese Anpassung an die Entwertung wurde längst auf eine Methode des kombinatorischen Gebrauchs neutraler und endlos austauschbarer Elemente erweitert – ohne Negation, Behauptung und Qualität.

Der Revolution wurde damit ebenso wenig zum Durchbruch verholfen wie die Poesie plötzlich von allen gemacht worden wäre. Was bei Lautréamont noch ein Frontalangriff war auf das ganze bekannte Universum, hatte im Surrealismus kein genügend destruktives Potential mehr um eine soziale Revolution zu bedingen. Die Realisierung derselben versprach man sich entsprechend von den Profis, in deren Dienst die Poesie zu stellen sei: Trotzki, Stalin, die Anarchisten, je nach persönlichem Geschmack. Man kann die Surrealisten nicht intopfwerfen, die sich über dieser Frage auch zerstritten, aber letztlich war das die Tendenz. Sie glaubten die Kunst hic et nunc verwirklichen zu können und verstanden es nicht eine Umgestaltung der materiellen Wirklichkeit anzustreben, d.h. der Eigentumsverhältnisse, zur Verwirklichung der Kunst: die Revolution in den Dienst der Poesie zu stellen.

Und auch die tatsächliche Aktivität als Surrealistische Künstler: Statt einer »Verbesserung« im Sinne Lautréamonts ist etwa die Collage bloßer Ausdruck einer vorgefundenen Entauratisierung, Entwertung, »Verschlechterung« wenn man will. Immerhin setzten sie die Entwertung des vorgefundenen Gegenstands voraus, was für kurze Zeit ein Fortschritt war gegenüber der alten Kunstwelt, die noch beschäftigt war die Mona Lisa zu bestaunen.

»Die Dichtkunst muss als Ziel die praktische Wahrheit haben. Sie drückt die Beziehungen aus, die zwischen den Grundprinzipien und den zweitrangigen Wahrheiten des Lebens bestehen. Jedes Ding bleibt an seinem Platz. Die Sendung der Dichtkunst ist schwierig. Sie mischt sich nicht in die Ereignisse der Politik, in die Art wie man ein Volk regiert …«

4. Gesang: Die Wiederaufnahme und communistische Kritik des Lautreamontschen Détournement durch die Situationistische Internationale

Doch diese einfache Negation der bürgerlichen Vorstellung vom Wahren, Schönen und Guten ist seit langem passé, sodass dem Schnurrbart der Mona Lisa kein größeres Interesse zukommt als der ursprünglichen Version dieses Gemäldes. Der Grund dafür ist einfach die Überreife der Bedingungen für eine absolute Umgestaltung der modernen Welt und die Antizipierbarkeit dieser Umgestaltung in den vielen gescheiterten Versuchen, die seither dazu unternommen wurden. Die bornierte Konzentration auf die Kunstsphäre ist gemessen daran langweilig, also konterrevolutionär. Auch die sich selbst zerstörende Kunst der modernistischen Avantgarden bestärkt längst nur noch die Positivität des Bestehenden.

Es gilt den Zerstörungsprozess nunmehr bis zur Negation der Negation weiterzutreiben. Die lettristische und situationistische Resurrektion des Détournement und der Technik des Plagiats erklärt dies nach 1945 zum Programm. Die Zweckentfremdungen werden zum Stil und zur Methode der Psychogeographie. Die S.I. und ihre Vorläufer haben das Ausmaß und die Qualität der von Lautréamont entwickelten Détournement-Strategie begriffen. Durch eine Wendung der von jenem Anti-Poeten entwickelten Techniken aus der Kunstsphäre heraus macht die S.I. das Détournement zur theoretischen Aneignungs- und Kritikmethode, einer Kunst im Klassenkrieg, einer Kriegs-Kunst. Diese zuerst eher konstruktive, dann zunehmend destruktive Dynamik aller Techniken des Détournement kulminiert im Durchbruch der proletarischen »Bewegung der Besetzungen« 1968. So wie Lautréamont die Destruktion der bürgerlichen Moral durch die Pariser Communarden bereits vorweggenommen hatte, hat die S.I. diese Aneignungsbewegung bereits ein Jahrzehnt lang auf kulturellem Gebiet experimentiert. Die Revolution in den Dienst der Poesie zu stellen – diese Umkehrung der surrealistischen Devise ist das strategische Prinzip der Konstruktion von Situationen bis hin zu der revolutionären Situation, aus der es keine Umkehr gibt.

»Es gibt nichts Unbegreifliches.«

»Der Mensch ist der Besieger der Hirngespinste, die Neuzeit von morgen, die Regularität, nach der das Chaos seufzt, der Gegenstand der Versöhnung. Er urteilt über alles. Er ist nicht dumm. Er ist kein Erdenwurm. Er ist der Depositär des Wahren, die Ansammlung der Gewissheit, der Ruhm, nicht der Auswurf des Weltalls. Wenn er sich erniedrigt, rühme ich ihn. Wenn er sich rühmt, rühme ich ihn noch mehr. Ich versöhne ihn. Es gelingt ihm zu begreifen, dass er die Schwester des Engels ist.«

5. Gesang und Schluss: Entwurf einer situationistischen Kritik an Lautreamont und der S.I.

Die Vernichtungsphantasmagorien Lautréamonts werden schon ein halbes Jahr nach seinem Tod in den Massakern des Versailler Bourgeoisregimes an den Communarden historische Wirklichkeit. Das Gute und die Moral der bürgerlichen Ordnung übertreffen das Böse der Gesänge: als die Banalität des Bösen. Und die Konterrevolution bleibt nicht im status quo, die Sieger hören zu siegen nicht auf. 70 Jahre nach dem preussisch-deutschen Frankreichfeldzug und der anschließenden Reichsgründung werden die Maldororschen Taten in den deutschen Vernichtungslagern Wirklichkeit, gesteigert zu der industriellen Massenermordung, die nicht mal Lautréamont kaputt genug war sich vorzustellen. Das ist der Grund, warum seine Literatur heute gewissermaßen antiquiert wirkt. Das trifft auch auf den Stil der S.I. zu, die viele Gepflogenheiten der alten Avantgarde beibehalten hat, die die Shoah ignoriert als sei sie nicht geschehen.

Nicht zufällig auch gibt es heute gar keine ernstzunehmenden Abhandlungen über die natürliche Gutheit des Menschen, solche Spießerphilosphie hat sich ebenso endgültig überholt wie ihr pfäffisches Gegenstück, die Doktrin, »der Mensch« sei »böse von Jugend auf«. Lautréamonts Negation derselben philiströsen doppelten Moral wirkt nicht mehr chocing sondern einfach nur noch obsolet, wie im übrigen jede moderne Kunst als Provokation obsolet geworden ist. Die Lautréamontsche Ironie hat sich gewissermaßen verallgemeinert. Die Menschheit hat die permanente Katastrophe akzeptieren gelernt, ist angesichts des Entsetzlichen, das ein Teil der Gattung dem anderen antut, »cool« und abgeklärt.

Wir können zweierlei konstatieren:

  • Trotz allen Lobes ist Lautréamont relativ unbeliebt. Seine Bücher werden nicht gekauft. Man konsumiert lieber die nüchterne, narkotisierende Prosa der wiederhergestellten bürgerlichen Gesellschaft – in unzähligen Lindenstrasse-Episoden collagiert: »So ist es, und so wird es bleiben.« Der Neosurrealismus trägt bei zu dieser postmodernen Regression. Diese und jenen gilt es zu bekämpfen, insbesondere als selbsternannte Avantgarde. Wir hoffen den Feinden dieses Copy & Paste mit unserem Aufsatz Munition geliefert zu haben.

  • Eine Verbesserung der Lautréamontschen und situationistischen Ansätze steht aus. Das ist unser Projekt. Dieses »berühmte Positive« im einzelnen zu diskutieren ist hier jedoch nicht der Platz. Wir wollen stattdessen mit einer Literaturliste schließen. Der interessierte Leser möge in z.B. den genannten Werken nach Antworten suchen. Wir würden uns außerdem sehr über Kritik, Anregung, Diskussion, Hinweise freuen. Am besten auf kriegstheater.blogsport.de, wo es eine Kommentarspalte zu diesem Artikel gibt.

»Wir sind frei, das Gute zu tun. Das Urteil ist unfehlbar. Wir sind nicht frei, das Böse zu tun.«

»Die Poesie muss von allen gemacht werden, und nicht von einem.«

Quellen und Hinweise

Primärliteratur:

  • Lautréamont - Das Gesamtwerk: Die Gesänge des Maldoror / Dichtungen (Poésies) / Briefe, Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Ré Soupault. Rowohl 1996

Aufsätze zu Lautréamont (u.a. von André Breton, Raoul Vaneigem e.a.): in:

  • »Das Geheimnis des Comte de Lautréamont. Untersuchungen und Essays«, hg.von Aimé Césaire e.a., Berlin (Edition Tiamat) 1986

Zum 1. Gesang:

  • Julien Gracq: »Lautréamont toujours« (dt.:) »Immer noch Lautréamont« in: Lautréamont Das Gesamtwerk. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt Paperback) 1963, S.215

  • Raoul Vaneigem: »Basisbanalitäten«, www.si-revue.de/ basisbanalitäten: Sowie vom selben Autor 1977 unter dem Pseudonym: Jules Francois Dupuis: Der radioaktive Kadaver eine Geschichte des Surrealismus. Hamburg (Edition Nautilus) 1979.

  • Adorno / Horkheimer: »Dialektik der Aufklärung« (Querido-Fassung Amsterdam 1947)

Zur Verdrängung der Shoah durch die S.I., siehe:

  • Biene Baumeister Zwi Negator - »Situationistische Revolutionstheorie«, Stuttgart (Schmetterling-Verlag) 2004 ders. in: Grigat, Stephan and Grenzfurthner, Johannes and Friesinger, Günther, eds. (2006) Spektakel - Kunst - Gesellschaft. Guy Debord und die Situationistische Internationale. Berlin (Verbrecher Verlag) 2005. Online als PDF unter: sammelpunkt.philo.at:8080/2028/

Die situationistische Theorie des Détournement ist verstreut über viele Schriften, u.a. in:

  • Guy Debord / Gil Wolman: »Die Entwendung: eine Gebrauchsanleitung« in: »Potlatch. Informationsbulletin der
    Lettristischen Internationale«. Berlin (Edition Tiamat) 2002, S.320.

  • Guy Debord: »Die Gesellschaft des Spektakels«, Thesen 204 – 209 www.si-revue.de/zweckentfremdung

Chronik

1846 geb. in Montevideo / Uruguay, unter dem Namen Isidore Ducasse. Gebildetes Elternhaus, Kindheit in der truppenbelagerten und von Unruhen und Epidemien heimgesuchten Stadt, deren Bevölkerung zu einem Drittel Europa-Migranten. Dreisprachig aufgewachsen.

1859 Ozeanreise nach Frankreich, dort »fleissiger und begabter« Internatsschüler auf Gymnasien in den Pyrenäen.

1865 Ende der Gymnasialstudien ohne Abschluss, kein Beginn eines Universitätsstudiums, sondern ab 1867 als » ohne Beruf « registriert. Entschluss, als Schriftsteller zu leben, nach erneuter Seereise in die Heimatstadt Bewilligung eines väterlichen Unterhalts und Umzug nach Paris.

1868 erscheint der Erste Gesang der »Gesänge des Maldoror«, die ersten beiden Ausgaben noch anonym; im September 1869 die Gesamtausgabe der Sechs Gesänge unter dem Pseudonym Comte de Lautréamont, aber noch nicht in Frankreich gedruckt. Doch das Buch kommt nicht in den Handel, weil der Verleger den Staatsanwalt fürchtet.

(Das Pseudonym ist die Entwendung des antiroyalistischen Verschwörernamens »Latréaumont«, des Titelhelden eines historischen Abenteuerromans vom Trivialbestsellerautor Eugène Sue (Antisemit und Antiproletarist. Der junge Marx nimmt Sues Erfolgswälzer »Die Geheimnisse von Paris« radikal auseinander in: »Die heilige Familie«, 1842, MEW2) Durch die Namensentstellung gibt Ducasse sich als Autor eine satanische Aura des antipopulären Antipoden: »L’autre Amon« bedeutet den anderen Amon, einen Engel des Bösen.)

Daraufhin schreibt Ducasse mittels der von ihm programmatisch entwickelten Plagiatmethode die »Poésies«. Sie sollen mit den »Gesängen« ein Ganzes bilden eine Dialektik von Gut und Böse in anti-poetischer Form mit anti-moralistischem Inhalt. Die »Poesien I und II«, deren Erscheinen Ducasse ebenfalls nicht erleben wird, bilden das Vorwort zu den geplanten »Gesängen des Guten«.

1870 Beginn des Deutsch-Französischen Krieges, Niederlage und Kapitulation Napoleons III. und Belagerung von Paris durch die Preussen. Versorgungskrise. Zuspitzung der Klassenkonfrontation in Paris, aus der im März 1871 der Aufstand der Commune hervorgeht. An einem Novembermorgen ungeklärter Tod von Isidore Ducasse in seiner Pension in Paris. Wir wissen von ihm fast nichts, die hinterlassenen sieben Briefe erwiesen sich als aufschlussreicher als die vielen widersprüchlichen Vermutungen seiner Biografen.

1917 André Breton und Philippe Soupault lesen die »Gesänge des Maldoror« in einem Lazarett. Kurz darauf entdecken Sie die »Poésies«.

1944 Erste Fassung der »Dialektik der Aufklärung« von Theodor W. Adorno erscheint.

1956 Die Lettristen Guy Debord und Gil Wolman veröffentlichen die erste situationistische Theorie des Détournements in der Zeitschrift »Les Lèvres Nues« N°8, »Die Entwendung: eine Gebrauchsanleitung«. Als Autoren geben sie die Surrealisten André Breton und Louis Aragon an.

1957 Gründung der Situationistischen Internationale (die 1972 aufgelöst wird).

1968 Bewegung der Besetzungen von Universitäten, Schulen, Fabriken und der Schlüsselzonen der französischen Wirtschaft im Mai bis Juni durch die Lohnabhängigen und jungen Leute. Internationale Ausstrahlung der Aufstandsbewegung, danach Rekuperation aller Aneignungen und Entwendungen.

Und jetzt Musik!