Tilman Reitz
Der als Frühsozialist bekannte Fourier ist ästhetisch mindestens ebenso stark rezipiert worden wie politisch oder sozialtheoretisch – aus guten Gründen. Erst einem Sinn für das Spiel von Formen und Umkehrungen erschließt sich das befreiende Potenzial seiner idiosynkratischen, esoterischen und nicht selten befremdlichen Schriften. Einige dieser Gründe will ich hier ausführen, indem ich erläutere, weshalb Fouriers Theorie besonders die Avantgarden des 20. Jahrhunderts (bzw., um es gleich genau zu sagen, ihre Kommentatoren und Nachzügler) angezogen hat. Vorwegnehmen kann ich, dass dabei nicht nur das Geradeausdenken von Theorie und Politik in Frage steht: Wer mit Fourier arbeitet, muss auch die Grenzen von Ästhetik und Kunst im klassisch-bürgerlichen Sinn unterlaufen. Denn in seiner Sozialutopie geht es nicht um distanziertes, »uninteressiertes« sinnliches Wohlgefallen, sondern um einen die gesamte Realität durchdringenden Spieltrieb und unmittelbare, vollständige Erfüllung. Die nähere Betrachtung wird zeigen, dass beides ebenso als Traum wie als Albtraum begreifbar ist – weshalb Fourier auch zum Verständnis gegenwärtiger Kulturproduktion beitragen kann.
Ich beginne mit zwei Bestandsaunahmen, einer zu Fouriers Entwürfen selbst und einer zu seiner avantgardistischen Rezeption, um diese dann in drei Schritten zu deuten und zu ergänzen. Mein Versuch dazu setzt bei der Verbindung von Kunst und ›Leben‹ an, nimmt selektiv Deutungen zur Massenkultur-affinen Logik von Fouriers Schriften auf und begreift ihn schließlich als Vermittlungsglied zwischen Kulturindustrie und avantgardistischer Abweichung. Bei alledem kommt es mir eher auf reflexive Zuspitzung als auf detaillierte Belege an – die können und sollten später folgen, etwa wenn endlich mehr von Fourier kritisch ediert und übersetzt wird.
Fouriers Plan einer neuen Sozialordnung bzw. Form des Zusammenlebens, den er von der Erstlingsschrift Theorie der vier Bewegungen (1808) bis zum Hauptwerk Le nouveau monde industriel (1828) und dem unabgeschlossenen, lange nicht edierten bzw. von seinen sonst fleißig aus dem Nachlass publizierenden Schülern zurückgehaltenen Entwurf Le nouveau monde amoureux reichen, ist oft und häufig gut zusammengefasst worden. 1 Da allerdings ein gewisser Überblick für die weitere Diskussion unverzichtbar ist, setze ich ebenfalls damit an, beschränke mich aber auf wenige Hauptpunkte.
Les attractions sont proportionelles aux destinées1 – die Anziehungen, so lautet Fouriers Grundsatz, entsprechen den Bestimmungen. Stärker erläuternd könnte man auch übersetzen, dass alles, was Menschen wollen, erfüllt und befriedigt werden kann, weil irgendwo immer ein komplementäres Begehren vorliegt. Das gilt zunächst für andere Menschen, setzt sich aber in einer grundoptimistischen Theologie, Kosmologie und sogar Zoologie fort, die Fouriers Anthropologie, Soziallehre und Geschichtsauffassung rahmen, aber auch freizügig als Fundus zur Symbolisierung menschlicher Verhältnisse genutzt werden. In diesen Verhältnissen selbst wird zunächst eine ausgeklügelte soziale Organisation angestrebt, die alle Bedürfnisse und Begehren tatsächlich zueinander bringt – wobei, wie am Ende noch zu diskutieren sein wird, weitgehend unklar ist, ob dieses Ergebnis von omnikompetenten Organisatoren oder eher durch spontane Selbstorganisation erreicht werden soll.
In jedem Fall präsentiert Fourier einen sozialtechnologischen Vorschlag. Dessen Kernidee ist die (Re-)Organisation der attraktiven Tätigkeiten, die weitgehend als identisch mit den sozial notwendigen Arbeiten begriffen werden. Wie später bei Marx geht es darum, Arbeit aus den Zwängen von Lohnerwerb und Profitanhäufung zu lösen, um sie stattdessen daran zu binden, dass Menschen Dinge gern tun und herstellen: Blumen oder Reben züchten, Kochen, Kleider oder Instrumente anfertigen. Die bereits hier konzipierte Verbindung der Leidenschaften zu ›Serien‹ des Zusammenwirkens erlaubt auch die sonstigen Aktivitäten durchgängig lustvoll zu gestalten, weil immer jemand da ist, mit dem man über die Zeitung reden, essen oder sich lieben kann. Erforderlich ist dafür vor allem, die bisherigen Grenzen zwischen öffentlichen Bereichen (inklusive dem Marktgeschehen) und privatem Raum (vor allem dem Familiär-Intimen) aufzuheben bzw. deren Verhältnis neu zu bestimmen. An die Stelle ihrer antiken oder modernen Separation soll eine Art Super-Oikos treten, eine große Lebens- und Produktionsgemeinschaft, die laut einiger von Fouriers vielen Berechnungen 1620 Menschen umfassen soll – genug, um für jede Leidenschaft das passende Komplement zu finden.
Gearbeitet wird in diesen Einheiten vor allem nach dem Prinzip der Abwechslung (nicht mehr als zwei Stunden das Gleiche), befeuert durch den Wettstreit der verschiedenartigen und ähnlichen Persönlichkeiten (ein oft zitiertes Beispiel sind die Züchter harter und weicher Birnen; Fourier zieht auch den Fall verschiedener Blumen und Nutztiere heran). Ein Teil der organisierten Tätigkeit besteht zudem darin, ihre Rekombination auszuhandeln; man trifft sich abends in der gemeinsamen »Börse«, um zu befinden, wer am nächsten Tag wann mit wem zusammenwirkt. Auch sonst werden unter dem Dach allgemeiner Solidarität stark wechselnde interindividuelle Verhältnisse arrangiert; im vormals Privaten herrscht keine Kleinfamilien-Enge, weil Liebe und Leidenschaft von der Fortpflanzung und Kinderpflege entkoppelt sind. Das erlaubt auf der einen Seite Poly- und tendenziell Omnigamie, zugleich können sich die gemeinsamen Kinder schon früh gemäß eigener Neigung in den produktiven Kontexten tummeln, die das Leben in der Phalange und im Phalanstère strukturieren. Diese Namen für das gemeinsame Haus, die soziale Einheit und ihre architektonische Infrastruktur, verweisen schließlich darauf, dass auch die Institutionen früherer politischer Öffentlichkeit in Fouriers Modell eine Nachfolge finden – durch sozusagen entkernte Fortschreibung militärischer, religiöser und repräsentativer Formen.2 Die Phalanx (wie ich im Folgenden übersetzen werde) ist offenkundig der antiken Schlachtordnung nachgebildet; von der Birnenzüchterserie bis zur Gesamtordnung der Frauen und Männer, Alten und Jungen strukturiert Fourier Gruppen nach ›Zentrum‹, ›aufsteigendem‹ und ›absteigendem Flügel‹. Das gleiche Muster findet sich in Kostümen und kultischen Rollenzuweisungen wieder, die die Einzelnen mal als Priester, mal als Göttinnen auftreten lassen und so ihren Arbeits- oder Geschlechtsverhältnissen kollektive Sichtbarkeit geben.
Theoretisch wird die entworfene Sozialtechnik in einem Schema der Leidenschaften fundiert, von dem ich nur zwei Punkte hervorhebe. Zum einen führt Fourier neue, charakteristische passions ein. Neben den Bedürfnissen der fünf Sinne und den sozialisierenden Leidenschaften Freundschaft, Wettbewerb, Liebe, Familiensinn kennt er spezielle Neigungen zu Kombination und Dissoziation, die für soziale Bewegung bzw. ein weiteres Äquivalent zur herkömmlichen Politik sorgen: la papillone, »alternante, contrastante«, das Bedürfnis nach Abwechslung, la cabaliste, »intrigante, dissidente«, die Disposition zu Streit und Intrigen, sowie la composite, »exaltante, egrenante«, die verbindende Begeisterungsfähigkeit.3 Wichtig ist zum anderen, dass Fourier im Gegensatz zu fast jeder sonstigen Ethik allen diesen Leidenschaften gerecht werden will; sie sollen nicht begrenzt, sondern gesteigert und eben verbunden werden – sind also Material und Anlass für eine ausgedehnte Kombinatorik.
Exzessiv wird diese Kombinatorik spätestens durch ihre kosmologisch-weltgeschichtliche Einbettung, die mit viel Fantasie und Vertrauen auf einen uns besonders wohlwollenden Schöpfergott entfaltet ist. Fourier kennt acht Weltzeitalter und prognostiziert eine völlige Umgestaltung der Erde, der schließlich ein Aufbruch zu anderen Planeten folgt. Wir (genauer Fouriers Zeitgenossen) leben im fünften Zeitalter, der Zivilisation, nach der freieren Zeit der Barbarei (die ihrerseits hinter früheren Zuständen wie der Wildheit zurückbleibt) und kurz vor dem Anfang des menschlichen Glücks – dem genossenschaftlichen ›Garantismus‹, gefolgt von der beginnenden und vollendeten Harmonie. Insgesamt stehen der Menschheit 40.000 Jahre Glück bevor, dann folgt ihr langsamer Niedergang. Trotz der weiten Zeithorizonte ist allerdings Beschleunigung möglich: Mit der Einrichtung der ersten Phalanx würde eine soziale Explosion ausgelöst (die exponentielle Nachahmung der hochattraktiven Einrichtung), die es ermöglichte, den Garantismus einfach zu überspringen. In jedem Fall wird die bessere Gesellschaft der Zukunft auch die Natur zu Umwälzungen befähigen; Fourier ist bekannt für seine Visionen von Gegen-Haien, Gegen-Tigern, Gegen-Ratten, die zahm sein und uns nutzen werden, Schiffe durchs Meer ziehen u. ä. Zusätzlich sind neue Gestirne und Halbgestirne wie eine »boreale Krone« vorgesehen, die für Licht und Wärme am Nordpol sorgt; das Meer wird entsalzen und limonadenartig. Zwischen Schlaraffenland-Motiven dieser Art finden sich auch restrospektiv einleuchtende Antizipationen, etwa von Telekommunikationstechnik.
Die Gesamtheit der genannten Motive macht schließlich eine überbordende Analogiebildung möglich (oder geht aus dieser hervor):4 Die Epochen von Kosmos, Erde und Menschheit werden mit Architektur und Organisation der Phalanges und Phalanstères in Entsprechung gesetzt, denen wiederum Abschnitte des menschlichen Lebens, Strukturen der Produktions-, Liebes- und Ritualeinheiten, der Leidenschaften, der Tonleiter (mit ihren zwölf Halbtönen), der Farben und vielem mehr entsprechen.
Sieht Fouriers Utopie so betrachtet wie eine menschenfreundliche Fantasiewelt aus, hat der zeitdiagnostische Hintergrund, vor dem er sie entwirft, auch eindimensionale und bösartige Züge: Der Zivilisation und ihrer Ökonomie tritt er nicht zuletzt mit Antimodernität und Antisemitismus entgegen. Einen Ausgangspunkt dieser Haltungen Fouriers kann man mit marxistischem Blick darin sehen, dass er vorrangig den »Betrug« im Handel und an der Börse kritisiert, nicht Ausbeutung und Fremdbestimmung in der Produktion.5 Entsprechend dominiert eine Parasitenkritik mit antijüdischer oder anderweitig rassistischer Prägung: Die Negativbeispiele in der Theorie der vier Bewegungen heißen Ischariot, England und China. Weiterhin erscheinen bei Fourier die großen Städte wesentlich als Orte von Verfall, Laster und Ungesundheit, die Landkommunen dagegen als überschaubare, kerngesunde Ordnungen. In diesen Punkten hebt er sich kaum von den herrschenden Klischees des 19. Jahrhunderts ab.
Weshalb man trotzdem (vor allem von links) an ihn anschließen kann, lässt sich am besten mit einigen Abstraktionen klären, die strategische Vorzüge im fantastisch-utopischen Kern seines Entwurfs hervortreten lassen: Anti-Repressivität, Differenzbejahung und maximale Disponibilität. Erstens droht bei Fourier entschieden kein Tugendterror: Nicht nur gelten die Menschen bei ihm als Produkt ihrer Verhältnisse, darüber hinaus will er wie gesehen ihre Leidenschaften sozial reorganisieren, nicht individuell disziplinieren. Dem entspricht eine durchgängige Polemik gegen die triste Moral des Verbots; entworfen werden »Verhältnisse […], in denen die Sittlichkeit sich erübrigt«.6 Organisierend ist dabei zweitens ein Prinzip maximaler qualitativer Differenz statt formalisierter Gleichheit. Die Unterschiede zwischen Anlagen, Wünschen und Tätigkeiten der Einzelnen werden in der Phalanx nicht eingeebnet, sondern durch Pluralisierung relativiert. Weil jeder in irgendeiner Weise wichtig ist, müssen individuelle Vorzüge nicht zur Dominanz privilegierter Gruppen führen – Michael Walzer könnte daran seine Freude haben. Anders als er und andere Differenzierungsdenker will Fourier jedoch drittens nicht kostbare evolutionäre Errungenschaften erhalten, sondern nimmt fast keine gegebene Einrichtung oder Struktur als unveränderlich hin. Von Liebe und Fortpflanzung über Arbeiten und kultisches Leben bis hin zu den Naturverhältnissen ist bei ihm alles Gegenstand hedonistischer, re-kombinatorischer Fantasie. Das macht die radikal utopische Qualität seines Denkens aus.