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Weiche Ziele
Die postmoderne Empfindsamkeit und das Glück der Herzenskälte

Magnus Klaue

Wer dem postmodernen Zeitalter im Stil bildungsbürgerlicher Kulturapostel noch immer Oberflächlichkeit, Kälte und Authentizitätsverlust glaubt attestieren zu können, muss an einer gestörten Wahrnehmung leiden. Im Gegenteil hat seit Jahren schon eine gewaltige Empfindsamkeitswelle die westliche Welt ergriffen, die mittlerweile sogar die unbestechlichsten Kritiker der Kulturindustrie einem intellektuellen Weichspülprogramm zu unterziehen scheint. An dem Testcard-Redakteur, konkret- und Jungle World-Autor Martin Büsser, dessen ästhetischem Urteil jahrzehntelang zuverlässig vertraut werden konnte, lässt sich diese Tendenz bis in die Sprachform hinein studieren.1 Wo früher jeder Satz in Fühlung mit dem Gegenstand formuliert war, theoretischer Gehalt und materiale Konkretion zwanglos konvergierten und jede Wertung Evidenz bewies, verliert die Sprache mittlerweile zunehmend ihren konkreten Objektbezug, um stattdessen Versatzstücke des zur Leitideologie gewordenen Gender- und Queerdiskurses aufzugreifen, für den Büsser sich früher mit Recht kaum interessiert hat. Nicht zufällig ist diese Entwicklung bei ihm mit einem musikästhetischen Geschmackswechsel einhergegangen: von Antifolk zu Emocore, von Kimya Dawson, die sich bei ihren Auftritten als Hase oder Hund verkleidet und in ihrem Album Alphabutt gemeinsam mit Babies singt, zum Typus des dauerpubertierenden Androgynen, der sich Spängchen ins Haar steckt und mit „Hello Kitty“-Buttons schmückt (Büsser et. al. 2009). Von der Kindheit zur Infantilität also und von der Sinnlichkeit, in der die widersprüchlichen Bedürfnisse des Sexus lebendig sind, zur geschlechtsneutralen Emotionalität – mit einem Wort, von der Kritik zur Versöhnung.

Neue Emotionalität und Polyamorie

Emotionalität ist die Schwundstufe der Affekte. Pathos nennt sich das artikulierte Bewusstsein ihrer Souveränität, Sinnlichkeit die individuelle Erfahrung ihres Triebgrundes. Emotionalität oder, wie es im 18. Jahrhundert in Gegenbewegung zum virilen Kraftmenschentum der Stürmer und Dränger genannt wurde, Empfindsamkeit ist die Bezeichnung für das, was von den Affekten übrigbleibt, wenn ihr Pathos versiegt und die Sinnlichkeit, als ihr somatisches Korrelat, gründlich verdrängt worden ist. Die Kategorie der Emotionalität hypostasiert als geistige oder seelische Qualität, was doch nur Autonomie besitzt, solange es auf seinen materialen Grund, auf die Triebstruktur der Subjekte und die Vielfalt der sinnlichen Erscheinungswelt als deren Gegenstand, bezogen bleibt. Die Ideologie der Empfindsamkeit lügt sich die Sinnlichkeit zur Sensitivität zurecht, kennt den Sexus allenfalls als Eros und die Liebe nicht als körperliches Begehren, sondern nur noch als Gefühl. Deshalb ist der Emotionalität, sofern sie zum Programm erhoben wird, meistens zu misstrauen: Sie neigt zur Harmonisierung von Widersprüchen, zum naiven Idealismus und zur Sinnesfeindlichkeit. Ihr postmoderner Siegeszug begann mit der Nullkategorie der „Aufmerksamkeit“, die irgendwann in den neunziger Jahren, als überall „Ökonomien“ und „Kulturen der Aufmerksamkeit“ aus dem Boden schossen, die trennschärferen Begriffe der Erfahrung und Kontemplation zu einem interdisziplinären Brei verkleisterte (exemplarisch Franck 1998). Etwa zeitgleich avancierten die „geschlechtersensible Sprache“ und die „kulturelle Sensibilität“ zu verpflichtenden Kommunikationsnormen, und mittlerweile wird nicht nur in akademischen Diskussionen jedem Widerspruch mit der Aufforderung begegnet, man möge doch bitte für abweichende Meinungen „sensibel“ sein. Auch erkenntnistheoretisch geschulte Betriebswirtschaftler haben inzwischen den Wert der „Emotionen“ entdeckt und beteiligen sich in diversen Gefühlsclustern an der Archivierung der Affekte. Leider verhält es sich mit dieser Gefühlsrenaissance ähnlich wie mit jenen „Emoticons“, die in E-Mails und Blogs von illeteraten Autisten als Kompensation ihrer zivilisatorischen Defizite eingesetzt werden: Jeder Affekt, ob liebevoll oder idiosynkratisch, zart oder aggressiv, gerinnt zur Fratze des einstigen Substrats, die dem Adressaten in auftrumpfender Schamlosigkeit vor Augen gestellt wird. Wie das „Emoticon“ als ikonische Anmache den Affekt ersetzt, der nicht mehr artikuliert und deshalb auch nicht mehr erfahren werden muss – denn nur was sich artikulieren lässt, kann als Erfahrung angeeignet werden –, so injiziert sich eine Gesellschaft, die jeder Vermittlung, insbesondere der Vermittlung der vermeintlichen Unmittelbarkeit des Gefühls, mit Feindschaft begegnet, die zerronnenen Affekte als visuelle Reiz-Reaktions-Signale: Wozu sich die Mühe machen, es auszudrücken, wenn die emotionalen Verkehrsschilder überall verfügbar sind.

Die solch automatisierter Gefühligkeit angemessene Liebesideologie, die auch für das Verständnis des Emo-Kults entscheidend ist, firmiert unter dem Label Polyamorie und erfreut sich als softlinke Gruppentherapie großer Beliebtheit. Polyamorie reagiert auf die offenbar auch in linken Kreisen nicht länger zu verdrängende Einsicht, dass mit der sexuellen Revolution etwas schiefgelaufen ist, und fungiert als letzter Rettungsanker für Leute, die umso stolzer darauf sind, keine „romantische Zweierbeziehung“ zu führen, je unabweisbarer ihnen vor Augen tritt, wie kärglich und verlogen sich die „offenen Beziehungen“ ausnehmen, deren sie als Distinktionsmerkmal gegenüber jener „Romantik“ bedürfen, die sie mit der Verbissenheit enttäuschter Liebender verachten. Polyamorie bezeichnet eine Form emotionaler Promiskuität, die die Suspension des sexuellen Monogamiegebots, die in der eigenen Lebenswirklichkeit als unbefriedigend empfunden wird, auf die Sphäre der Gefühle ausdehnen will. Weil man, was man weniger aus Einsicht denn aus sexualpolitischer Überzeugung heraus für richtig erachtet, nicht als befreiend, sondern im Gegenteil als Zwang erlebt, soll die verordnete Libertinage, die eben deshalb nie wirklich eine gewesen ist, mit potenzierter Strenge nun nicht nur das Sexual-, sondern auch das Gefühlsleben der Individuen bestimmen. Der totalitäre Gehalt der Aufforderung, man möge seine Gefühle auch entgegen der eigenen Neigung unbedingt dem progressiven Bewusstseinsstand anpassen, muss dabei umso vehementer verleugnet werden, je weniger sich die beschworene erotische Freiheit an eigener Erfahrung konkretisieren lässt. In einem Phase 2-Artikel von Mirko Maschewsky, der in seiner Begriffslosigkeit typisch für den Polyamorie-Diskurs ist, bricht sich die daraus resultierende Ohnmacht in angemessen verrutschter Metaphorik Bahn: „[Mit Polyamorie] kann eine vernünftige [!] politische Strategie […] geschaffen werden, die gegenüber der emotionalen Käfighaltung, in der Liebe und Beziehung betrieben [!] wird, Veränderungen einfordern kann. Um Poly individuell zu praktizieren [!], muss ein anderer Teil von Veränderung in mir selbst stattfinden. Und ganz anarcho-idealistisch gesprochen, ist dieser doch kategoriell [!] super zu finden. Deshalb, weil er durch das Rumspielen mit Möglichkeiten wiederum mit der Möglichkeit der Erkenntnis im neunten Monat ist.“ (Maschewsky 2007)

Die jedem vertraute Erfahrung, dass Affekte stärker als Überzeugungen sein können, dass man also auch dann, wenn man dem Partner und sich selbst jede Freiheit zugesteht, ein anderes sexuelles Verhältnis, über das sich eine „offene Beziehung“ doch eigentlich erhaben dünken müsste, als Kränkung empfinden mag, wird umgemünzt in die Aufforderung, auch im eigenen Gefühlshaushalt jeden Gedanken an Ausschließlichkeit im Namen einer Freiheit zu tilgen, die sich als „vernünftige Strategie“ längst zu einem „kategoriellen“ Prinzip verselbständigt hat. Wie wenig der Verfasser seiner eigenen Emphase traut, lässt sich an der Mischung aus hilfloser Abstraktion und schaler Witzigkeit erkennen, mit der er als Kulturrevolution fingiert, was in Wahrheit eine Aufforderung ist, den eigenen Bedürfnissen im Namen des Kampfes gegen die „emotionale Käfighaltung“ Gewalt anzutun. Die „Emotionen“, die kein Mensch unmittelbar hat, es sei denn in neurotischer, verschämter, politisierter oder sonstwie pathogener Deformation, und die bestenfalls in geduldiger Hinwendung zum Besonderen, Individuellen, also gerade in einer das Eigentumsprinzip transzendierenden Form von Treue überhaupt entwickelt werden könnten, sollen den Individuen von außen, in einer Art emotionaler Lebensreform, verabreicht werden, weil man den Gedanken an Verhältnisse, in denen eine solche Ansage sich erübrigen würde, gar nicht mehr denken kann.

Gerade weil individuelle Liebe nicht „betrieben“ oder „praktiziert“ wird wie ein Geschäft oder Beruf und keinen kalkulierten „Strategien“ gehorcht, ist sie ohne das Moment des Ausschließlichen, das hier tierschützerisch als „Käfighaltung“ diffamiert wird – sind Menschen Hühner, die möglichst viel Freilauf brauchen? –, nicht zu denken. Noch in der irresten Obsession schwingt entstellt das Bewusstsein mit, dass das Ganze, das die Liebe will, nur im Besonderen zu finden ist. Wie Eifersucht sich nicht als bloßer Effekt einer verinnerlichten Eigentumslogik abwehren lässt, sondern das angstvolle Bewusstsein um die Unwiederbringlichkeit der geliebten Person zum Ausdruck bringt, so zeugt die Vorstellung vom „Einzigen“, der wie niemand sonst mir gemäß wäre, nicht einfach von Verblendung, sondern auch von Erkenntnis, die ganz ohne Verblendung nicht zu haben ist. Das je besondere Individuum, das von der Ausschließlichkeit der Liebe fetischisiert wird, ist in seiner monadologischen Form auch Vorschein des Besseren – einer Welt nämlich, in der Liebe sich schon deshalb nicht mit Tierschutzmetaphern beschreiben ließe, weil in ihr die menschliche Natur dem Naturzwang entronnen wäre. Aus Angst vor dieser Freiheit setzt Polyamorie an die Stelle des „romantischen“ Anspruchs auf Ausschließlichkeit ein vermeintlich buntes, in Wahrheit tristes Nebeneinander der Gefühle und Bedürfnisse, die einander nicht stören, weil sie einander gleichgültig sind. Bewahrt die Ausschließlichkeit der Liebe in der Hypostase des Besonderen die Erinnerung an das, was sich im Individuum dem Tauschprinzip entzieht, das es doch erst hervorgebracht hat, so fingiert Polyamorie die universale Indifferenz als höchste Freiheit. An die Stelle des Ernstes, der allen Liebenden noch in den Momenten der Albernheit, des Spiels und der Ekstase eignet, tritt die Feier des Unernstes, die die Austauschbarkeit der Subjekte sanktioniert – als „Rumspielen mit Möglichkeiten“, das nicht zufällig eher an freudlose Masturbationsversuche denn an glückliche Selbstentgrenzung denken lässt.

Weil sie weder vom bürgerlichen noch vom romantischen Liebesbegriff eine Ahnung haben, versteigen sich die Apologeten von Polyamorie bei ihrem Bemühen, eine von allen irrationalen und anachronistischen Schlacken gereinigte Form der „Beziehungsführung“ zu entwickeln, in einen leeren Pragmatismus, der eben deshalb vom schalsten Romantizismus nicht zu unterscheiden ist. Indem sie das am Modell der bürgerlichen Ehe gewonnene Ideal der Monogamie pauschal als „romantisch“ verwerfen, verstellen sie sich den Blick auf die Dialektik von bürgerlicher und romantischer Liebe. Letztere ist nicht einfach die Ideologie der ersteren, sondern klagt polemisch ein, was diese nur versprach. Die bürgerliche Ehe als abstraktes Vertragsmodell, wie es erstmals Kant in der „Metaphysik der Sitten“ entfaltet hat, schaffte zumindest formell die unmittelbare Herrschaft ab, als die Sexualität und Liebe in den vorbürgerlichen Formen der Polygamie, aber auch in der als Lebens- und Arbeitsgemeinschaft fungierenden Großfamilie begriffen und gelebt wurden. Die sich mit Konstituierung der bürgerlichen Gesellschaft vollziehende Ausdifferenzierung von Öffentlichkeit und Privatsphäre, Kleinfamilie, Partnerschaft und Erwerbsleben setzt „Liebe“ als privilegierte Sphäre der Zweckfreiheit, über deren Gestaltung allein die individuellen Bedürfnisse der Beteiligten entscheiden. Zugleich aber ist der Ehevertrag, der diese Freiheit garantiert, ein reines Abstraktum, das im Namen der eigenen Geltungskraft von allem Individuellen absehen muss (vgl. Honegger 1991). Jene „Liebe“, die Polyamorie als „romantisch“ diffamiert, ist in Wahrheit bereits eine Antwort auf die schlechte Abstraktion des bürgerlichen Ehemodells, gegen das sie geltend macht, was Polyamorie von der „Romantik“ zu Unrecht verraten sieht: Individualität, sinnliche Lust und Spontaneität, deren Ansprüche dem Konzept der monogamen Ehe widerstreiten. Da die Apologeten von Polyamorie den Antagonismus zwischen bürgerlicher und romantischer Liebe übersehen, verfallen sie bei ihrem Kampf für die von der „romantischen“ Ideologie angeblich geknebelte Vielfalt sinnlicher Bedürfnisse selbst in einen Reglungswahn, der das Vertragsmodell der bürgerlichen Ehe weit in den Schatten stellt. Um es unter gesellschaftlichen Bedingungen, die den Einzelnen zwangsläufig ins Unrecht setzen, im Privaten dennoch allen recht zu machen, wird der Gefühlshaushalt der Individuen einer rigiden Kontrolle unterworfen, wie sie im Rahmen der bürgerlichen Ehe, die sich um das Individuum jenseits seiner formellen Funktion als Vertragspartner nicht schert, undenkbar wäre.

Organisierte Promiskuität

An den Ausführungen von Oliver Schott, der die Grundüberzeugungen von Polyamorie in einem Jungle World-Dossier in einer für die Szene unüblichen Präzision und Stringenz entwickelt hat (Schott 2007), lässt die Einheit von Romantizismus und Reglungswut sich beispielhaft studieren. Indem er seinen Text „Dem Leben Schönes schenken“ nennt und ihn mit dem Wunsch enden lässt, wir alle mögen „durch Liebe zu besseren Menschen werden“, revoziert er romantische Ideale, die allerdings bezeichnenderweise von allem Individuellen entleert sind. Im historisch präzisen Sinn „romantisch“ wäre es eher, dem Geliebten und nicht dem Leben, um das Verliebte sich sympathisch wenig kümmern, Schönes schenken zu wollen, und in der Forderung, sich zu „besseren Menschen“ zu entwickeln, klingt jene praktische Ethik an, gegen deren Vorläufer sich die frühromantische Philosophie, der es eher um die Unerschöpflichkeit des Menschen ging, besonders vehement gewendet hat. Gerade um eine solche praktische Ethik der Gefühle aber geht es bei Polyamorie. Kein Zeitungsartikel über das Thema, in dem nicht betont würde, dass Polyamoristen „gut im Organisieren“ sein und „Terminkalender“ führen sowie sich zwingen müssten, „viel zu planen“, „auf Spontaneität zu verzichten“ und „an sich selbst zu arbeiten“. Polyamorie, so betonen Forscher wie Szeneinterne in moralischem Tremolo, sei „keinesfalls eine nicht enden wollende Orgie“, sondern verlange, dass alle Beteiligten „ständig kommunizieren“ und „ihre Bedürfnisse formulieren“ – viel Internalisierungsarbeit also für Leute, deren erklärtes Ziel darin besteht, einem „System“ zu entkommen, „in dem Menschen ständig ihre Bedürfnisse unterdrücken“ (alle Zitate aus Focus 2009 und Zeit 2010). Dass der Versuch, „praktische Konsequenzen“ aus der Kritik am „romantischen Modell“ zu ziehen, jede Menge Arbeit an sich selbst bedeute, betont auch Schott, wenn er beschreibt, wie sich in polyamourösen Beziehungen Eifersucht überwinden lasse: „Echte Selbstkritik erschöpft sich nicht in der Einsicht, dass Eifersucht dumm ist; man muss auch entsprechend handeln. Das kann dazu führen, dass man sich eine Weile ziemlich schlecht fühlt, aber das gilt auch für den nächsten Zahnarztbesuch.“ (Schott 2007) Von der Frage einmal abgesehen, ob nicht auch die Liebe selber nach Maßgabe der praktischen Vernunft „dumm“ ist und gerade darin ihre Dignität hat, soll also für die Eifersucht wie für die Wurzelbehandlung das Prinzip „Da müssen wir durch“ gelten. Diese Maxime ist die einzige Antwort, die Polyamorie auf die Erfahrung parat hat, dass fast niemand heute durch Liebe glücklich, aber fast alle durch sie traurig, brutal, verscheucht, unverschämt, infantil oder blödsinnig werden: Man müsse nur schön vernünftig sein und sich ein bisschen zusammenreißen, dann kämen die richtigen Gefühle ganz von selbst.

Weil jede Reflexion über das Schicksal der Gefühle heute bei der Frage ihren Ausgang nehmen müsste, weshalb es so wenig liebenswerte Menschen gibt, warum man selbst kaum zur Liebe fähig ist und was beides miteinander zu tun hat, eine solche Reflexion aber kein gemeinschaftsstiftendes Glaubensangebot bereithielte, investieren die Polyamoristen, denen es nicht um die Fähigkeit zur Liebe, sondern um „Liebesfähigkeit“ als Sozialkompetenz geht, ihre Gesprächsenergie in die kollektive Suggestion, dass es allen besser ginge, wenn keiner mehr das ganze Glück, sondern jeder für alle ein Scheibchen erstreben würde. Ein solches „rationales Beziehungsmodell“, so Schott, mache es „einfacher, uneingeschränkt offen und ehrlich miteinander zu sein“: „Man muss weniger Angst haben, dass bestimmte Bedürfnisse oder Neigungen Irritationen hervorrufen, da sie ihren Ort [!] ja auch in anderen Beziehungen finden können. Man muss viele Gefühle nicht mehr verheimlichen, weil sie das Regelwerk [!] der Beziehung nicht mehr beeinträchtigen oder zu zerstören drohen.“ (Schott 2007) Permanent redet Polyamorie von Ehrlichkeit, Offenheit und Transparenz – „Wir haben keine Geheimnisse voreinander“, lautet die Zauberformel (Focus 2009) –, nie aber vom individuellen Glück und von sinnlicher Lust. Dass die „Bedürfnisse“, um die es bei der Liebe geht, von der geliebten Person untrennbar sind und sich daher nicht umstandslos an andere „Orte“ verschieben lassen wie Nachrichten im E-Mail-Ordner; dass Intimität und Heimlichkeit, sei es in Form der behutsam geheimgehaltenen Affäre oder der Tics, Skurrilitäten und Kosenamen, an denen die Geliebten sich erkennen, zum sexuellen Glück dazugehören, ja es wesentlich ausmachen; dass eine Liebe ohne „Irritationen“ sich aufgeben würde, weil sie tatsächlich zu jenem „Regelwerk“ verkäme, in dem selbst die bürgerliche Ehe sich nie erschöpft hat – das kommt Polyamoristen nicht in den Sinn, weil die innere Triebkraft ihrer Bemühungen nichts anderes ist als die Angst vor dem Geheimnis selbst, als das der Sexus dem verdinglichten Bewusstsein erscheinen muss, das den unerhellten Trieben ebenso blind ausgeliefert ist wie der unbegriffenen Autorität des Über-Ich.

Konsequent befasst sich Polyamorie weder mit dem konkreten Verhältnis zwischen Gefühl und Recht, Sexualität und Moral, um das sich nicht nur Kants „Metaphysik der Sitten“, sondern auch die romantische Liebesphilosophie bemüht, noch mit konkreten sexuellen Bedürfnissen, Ängsten oder Nöten. Die omnipräsente Angst etwa, die sexuellen Wünsche des anderen nicht erfüllen zu können oder die eigene Unerfahrenheit zu verraten, oder auch die Furcht vor den eigenen, möglicherweise destruktiven sexuellen Sehnsüchten – all das Sprachlose, Dunkle, Unbearbeitete, das Sexualität in der gegenwärtigen Gesellschaft notwendig ausmacht, spielt für Polyamoristen keine Rolle mehr angesichts der „realen Gestaltungsmöglichkeiten, die wir heute in unserem Privatleben haben“ und die die meisten Menschen lediglich aus mangelnder Einsicht nicht „im Sinne eines moralischen und/oder hedonistischen guten Lebens auszunutzen“ wissen (Schott 2007). Entscheidet man sich hingegen – und Polyamoristen sind überzeugt, dass jedem diese Entscheidung offenstehe – im Sinne der praktischen Gefühlsethik für eine vernünftig austarierte Promiskuität, bei der „die Affäre“ die „Beziehung zur geliebten Person nicht gefährdet“, „in der Hitze der ersten Liebe“ nicht „zu viel Porzellan zerschlagen“ wird und niemand „gemäß den überholten Kategorien der Monogamie fühlen und handeln“ muss, tritt an die Stelle des unversöhnten Antagonismus ein „verantwortungsbewusster Hedonismus“ (ebd.), der den schalen Kompromiss zwischen romantischer Sehnsucht und ernüchterndem Alltag schon im Namen trägt. Hedonismus freilich ist schon in der Antike keine Lehre vom erfüllten Glück, sondern eine Ethik der beschränkten Genüsse, die den verinnerlichten Verzicht voraussetzt (Marcuse 1967). Ganz in diesem Sinne empfiehlt Polyamorie sich als zeitgemäße Psychotechnik, die den Menschen, denen die Zwecke ihres Daseins so fremd geworden sind wie die eigenen Gefühle, die Vereinbarkeit des Unvereinbaren verspricht: Enthusiasmus und Vernunft kommen bestens miteinander aus, wenn alles seinen Ort und seine Zeit hat, niemand überreagiert und keiner dem anderen größeren Zwang antut als sich selbst.

Emo – der empfindsame Mann

In diesem Dunstkreis der dem Individuum gleichsam nach seinem gesellschaftlichen Tod als therapeutische Ergänzung seiner verkümmerten Restvernunft verabreichten Gefühle kommt nun die Figur des „empfindsamen Mannes“ auf, die so paradigmatisch für die Emo-Kultur, aber auch für die Postmoderne insgesamt ist. Ästhetisch und atmosphärisch verdankt sich Emo zwei Quellen, zu denen es zugleich in einen Gegensatz tritt: dem Hardcore- und dem Grufti-Milieu. Vom Hardcore, in dessen Umfeld es entstanden ist, übernimmt es vor allem einen gewissen ästhetischen Expressionismus, eine Emphase der Authentizität und Unmittelbarkeit, die gegenüber der vermeintlichen Glätte postmoderner Abgeklärtheit einen reizvollen Kontrast bildet. Dezidiert wendet sich Emo jedoch gegen die aggressive Virilität, den Wutkult und überhaupt gegen das reaktionäre, brachiale Männerbild des Hardcore, dem es das Bild des sensitiven Mannes sowie eine allgemeine Androgynität, ein unentschiedenes Schwanken zwischen den Geschlechterrollen, entgegensetzt. Sein Modus der Expressivität ist nicht, wie im Hardcore, die Wut, sondern die Trauer, die sich freilich nicht mehr auf konkrete Verlusterfahrungen, sondern eher auf einen nebulösen Weltverlust bezieht. Musikalisch realisiert sich die Akzentverlagerung von Hardcore zu Emocore im charakteristischen Wechsel zwischen lauten und leisen, geflüsterten und geschrienen Passagen, in einer Verschränkung von Expressivität und Innerlichkeit also, worin sich die für Emo typische Fetischisierung der Pubertät als Phase ostentativer Unreife ausspricht. In ihr sind die Frustrationen über die unbefriedigende Wirklichkeit zwar noch nicht nach Maßgabe des Realitätsprinzips gemildert, vermögen sich jedoch ebenso wenig ästhetisch und politisch zu konkretisieren, sondern bleiben vielmehr in der Erfahrung narzisstischer Kränkung stecken, die das empfindsame Ich seiner Mitwelt trotzig als Opfermal entgegenhält. In der Verklärung von Passivität und Unentschiedenheit sowie in der Vorliebe für gemischte Stimmungslagen, für Nachdenklichkeit und Melancholie statt Aktivismus und Wut, sind die Emos wiederum den Gruftis ähnlich, von denen sie sich aber durch weitgehenden Verzicht auf mystische Spintisiererei sowie durch einen spielerischen Umgang mit sich selbst und anderen unterscheiden. Die Tatsache, dass Emos im Gegensatz zu den als unpolitisch wahrgenommenen Gruftis vor allem in Lateinamerika, aber auch in südeuropäischen Ländern verfolgt, als „Schwuchteln“ beschimpft und attackiert werden, wird meist als Argument für das subversive Potential ihre Ästhetik und Lebensweise in Anschlag gebracht. Ihr am asiatischen Männerbild orientierter, zarter und feingliedriger Look erscheint so als Gegenentwurf nicht nur zum Wutkult des Hardcore, sondern auch zum lateinamerikanischen Machismo, wie er sich hierzulande nicht nur unter multikulturalistischen Linken kritikloser Beliebtheit erfreut.

Dass Emos wegen solcher, tatsächlicher oder auch nur vorgestellter Eigenschaften vielleicht sympathischer sind als Reggae- oder Hiphop-Fans, sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Kult um sie demselben Bedürfnis entspringt wie das allseitige Revival von Emotionalität und Sensitivität: der Sehnsucht nach konfliktloser Auflösung von Widersprüchen nämlich, wie sie sich am offensten im allseitigen Lob der Androgynität ausspricht. In einer Verteidigung der Emo-Kultur für die Jungle World hat Martin Büsser die wichtigsten Elemente dieser Sehnsucht zusammengetragen (Büsser 2008). Dort erzählt er eingangs einige Emo-Witze („Wieso sind Emos ab zwölf Uhr nicht mehr in Kneipen anzutreffen? – Weil dann die Happy Hour beginnt!“), um fortzufahren: „Der diskriminierende Inhalt der Witze, die über Emos gemacht werden, macht bereits deutlich, was dieser eher introvertierten, defensiven Gruppe vorgeworfen wird, nämlich dass sie an der Welt leidet. Eines der beliebten Stereotype über die Emos ist, dass sie sich ständig ‚ritzen‘, also Schnittwunden zufügen. Dies ist allerdings nichts, was für Emos spezifisch ist. Auch die Punks haben unter den gesellschaftlichen Verhältnissen gelitten und ihren Frust in Ritualen der Selbstzerstörung zum Ausdruck gebracht. […] Doch nicht das Leiden an der Welt alleine schürt den Hass auf Emos, auch nicht deren mehr oder weniger exzentrisches Outfit, etwa die schwarz gefärbten Haare und Fingernägel. Wäre dem so, müssten Anhänger der Gothic-Bewegung ähnlichen Anfeindungen ausgesetzt sein, was nicht der Fall ist. Das Motiv für die Feindseligkeit gegenüber den Emos besteht in der Verbindung all dessen mit einem defensiven, androgynen Auftreten. Sämtliche in Internet-Foren kursierenden Äußerungen gegen Emos sind latent, bisweilen auch offen homophob. In einem Yahoo-Forum äußert sich ein Blogger: ‚Wir fanden heraus, es gibt prozentual berechnet mehr Emos, die sich von dem gleichen Geschlecht angezogen fühlen, als normale Menschen.‘ Und er unterstreicht sein Verständnis von Normalität wenige Zeilen später mit dem Verweis auf die Musik: ‚Emos denken auch, dass sie ›Rock‹-Musik hören, das stimmt aber nicht, es sind nur Möchtegernrocker. In der Rocker­szene sind diese Art von Lebewesen recht unbeliebt.‘ Homosexualität ist nach Ansicht derer, die Emos hassen, ­etwas Defizitäres und damit genauso ‚unecht‘ wie die Musik, die von den Emos gehört wird. In dieser reaktionären Verknüpfung, die auf eine wie auch immer umrissene ‚Normalität‘ und Rock-Authentizität beharrt, drückt sich die typisch männliche Angst vor Brüchen und Ambivalenzen aus, vor dem Ungenauen und dem Undefinierten, mit dem Emos spielerisch umgehen. Zusätzlich ist diese Angst an einen diffusen Hass auf alles Intellektuelle ­gekoppelt, was darin zum Ausdruck kommt, dass im Zusammenhang mit Emos stets von ‚verwöhnten Muttersöhnchen-Gymnasiasten‘ die Rede ist. Das Zusammenspiel von Androgynität, ‚Weichheit‘ und vergleichsweise hohem Bildungsstand stellt für die Gegner ein Maximum an Bedrohung ihrer männlichen Hegemonie dar“ (Hervorhebungen M.K).

Es ist befremdlich, wie hier aus der Diagnose der „Diskriminierung“ einer Subkultur undialektisch darauf geschlossen wird, dass diese Gruppe unmittelbar und substantiell eben wegen ihrer Marginalität und ihres „Leidens“ das gesellschaftlich Bessere vorstelle, und dieses Bessere dann auch noch als Kampf gegen eine vermeintliche „männliche Hegemonie“ an den Gender- und Queerdiskurs angedockt wird. Ganz abgesehen davon, dass es gerade in homosexuellen Subkulturen teilweise sehr aggressive Formen „männlicher Hegemonie“ und in Transgender- und Queer-Milieus eine geradezu habitualisierte Ablehnung gegenüber „introvertierten“ Menschen gibt, bleibt die Frage, was „Leiden“ und „Defensivität“, die hier gleich mehrfach als positive Attribute auftauchen, zu einer derart wünschenswerten Haltung machen soll. Zumindest in weiten Teilen des Punk jedenfalls waren die „Rituale der Selbstzerstörung“ – wie immer man sie bewerten mag – nie einfach nur Ausdruck von „Frust“ und „Leiden“, sondern durchaus auch von Selbstbewusstsein, also von einer, sich allerdings vorerst destruktiv artikulierenden Widerständigkeit. Auch die Rocker-Szene, für deren Authentizitäts- und Härtekult man wahrhaft keine Sympathie empfinden muss, ist in ihrem Umgang mit szeneinternen Frauen, vor allem aber mit Angehörigen älterer Generationen, sensibler als Büssers Text nahelegt, der seinerseits ein Klischeebild des „Rockers“ als schwulenfeindlichem Haudrauf zeichnet. Möglicherweise lassen sich die identitären, gewaltförmigen Momente dieser Szenekulturen – ihre Angst vor dem „Ungenauen“, vor „Brüchen und Ambivalenzen“ – als verzerrter Ausdruck des Bewusstseins entziffern, dass es, um einer schlechten Wirklichkeit widerstehen zu können, eben nicht ausreicht, an ihr zu leiden. Gerade gegenüber dem Vorschein von Autonomie, der sich in solcher Emphase von Wut und Aggressivität auch kundtut, erweist sich der „defensive“, „introvertierte“ Charakter der Emo-Kultur eher als fragwürdig, werden doch hier Eigenschaften, die ihrem hohen Sympathiewert zum Trotz ohnmächtig bleiben müssen, solange ihnen jeder Begriff emphatischer Selbstidentität abgeht, als Erscheinungsformen einer begrüßenswerten neuen Innerlichkeit abgefeiert. Dass dem „Leiden“ an „der Welt“ bzw. „den gesellschaftlichen Verhältnissen“ dabei in Wahrheit längst jeder Objektbezug abhanden gekommen ist, von solcher Totalität des Leidens aber wiederum kein Begriff existiert, wird bei aller Bemühung, die Emos für den Kampf gegen „Homophobie“ in Dienst zu nehmen, überhaupt nicht mehr wahrgenommen.

Ähnlich problematisch ist der seltsam vage Status, den Sexualität im popkulturellen Emo-Diskurs einnimmt und der durch die Witze über „verwöhnte Muttersöhnchen-Gymnasiasten“ ungewollt recht präzise umrissen ist. Rückt diese Metaphorik die Emos doch – unbewusst zwar, aber treffend – in den Kontext einer unerwachsenen, gleichsam im Stadium immerwährender Pubertät zerfließenden Männlichkeit, deren ökonomische und gesellschaftliche Produktivitätskrise durch einen Kult ätherischer Vergeistigung und Sensitivität kompensiert werden soll. Die psychische Disposition, die dieser Haltung entspricht, ähnelt tatsächlich bis in ihren körperästhetischen Ausdruck hinein dem Ästhetizismus und Dilettantismus der „Sohnesgeneration“ des Fin de Siècle mit ihrer Feier ökonomischer, ästhetischer und biologischer Unproduktivität. Damit stehen die Emos in der spätbürgerlichen Tradition der zuspätgekommenen Erben, die die fragwürdige Hinterlassenschaft ihrer Eltern weder antreten können noch wollen, aber auch unfähig zur Spontaneität des Neuanfangs sind. Konsequent artikuliert sich Sexualität in der Emo-Ästhetik, auch darin steht sie dem Ästhetizismus und Jugendstil nahe, primär als ätherisches, vergeistigtes Vermögen, das zwar gegen die bürgerliche Fetischisierung von Sexualität als biologische Reproduktion in Stellung gebracht wird, zugleich aber in einer Verherrlichung des Vagen, Unentschiedenen – und damit auch der Entscheidungslosigkeit und Handlungsunfähigkeit – folgenlos verrinnt. Im Umfeld der spätbürgerlichen Subkulturen figurieren die Emos also sozusagen als entbrutalisierte Punk-Sensibelchen, die sich die Verweigerung von Produktivität, wie sie sich im Punk destruktiv gegen die Gesellschaft wendet, als Kultus hehrer Innerlichkeit zueignen. Im Gegensatz zur Körperästhetik des Hardcore und Punk wird Sexualität damit zwar durchaus als etwas Fragiles, im einzelnen Individuum noch Unausgetragenes wahrgenommen, dem eine Ästhetik brachialen Selbstausdrucks nicht gerecht wird, zugleich jedoch als entsinnlichter Impuls, in den sich das Emo-Ich ebenso ziel- wie folgenlos vergrübeln darf, ohne jemals zur Sache kommen zu müssen. Solch entsinnlichte Unentschiedenheit, die den gesellschaftlichen Antagonismus eher erträgt, statt ihn auszutragen, passt hervorragend zum Ethos der Selbstzurücknahme und permanenten Moderation, das Polyamorie predigt, um aus der Sexualität die Erfahrung der Einheit von Schmerz und Glück zu tilgen und alle „Beziehungskonflikte“ zur Sache von Verhandlung statt von Streit zu erklären.

L’ homme fragile

Diese Fetischisierung von Passivität wird ignoriert, wenn man sich wie Büsser darüber begeistert, die Emos seien „ein scheuer, aber wirkungsvoller Widerhall“ des „alten Verständnisses von Jugend- und Subkultur“: „Sie nehmen sich das Recht zum Tagtraum, zum Grübeln und Schwelgen, sie gönnen sich eine verlängerte Pubertät“. Untermauert wird diese Behauptung mit einem Zitat Adornos, der in seinem Essay „Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie“ zur Verteidigung der Pubertät als autonomer Lebensphase schreibt: „Der Geist, der sich von den unmittelbaren Zwecken distanziert, und dem dazu jene paar Jahre die Möglichkeit geben, in denen er über seine Kräfte verfügt, ehe diese der Zwang zum Erwerb des Lebens absorbiert und abstumpft, wird als bloßer Narzissmus verleumdet.“ Wo Adorno aber das Eigenrecht der Pubertät, also jener „paar Jahre“, in denen man „über seine Kräfte verfügt“, gegenüber dem Primat der „unmittelbaren Zwecke“ und des „Zwangs zum Erwerb“ geltend macht, wird bei Büsser abstrakt eine „verlängerte Pubertät“ gelobt, die gar nicht mehr das Ziel hat, irgendwann in eine, diesmal vielleicht endlich menschenfreundliche Form des Erwachsenseins zu münden. Wo bei Adorno das Bewusstsein präsent bleibt, dass „jene paar Jahre“ immer schon unter dem Druck der drohenden „Absorption“ stehen, es also der Reflexion und vor allem einer gewissen Widerständigkeit des Einzelnen bedarf, um jene „Kräfte“, die ihm geborgt sind, festzuhalten und zu entwickeln, ist bei Büsser die „verlängerte Pubertät“ etwas, das man sich „gönnt“ wie einen Sonderurlaub. An die Stelle der erwachenden Sexualität, mit deren Ängsten, Konflikten und Wunden sich die allermeisten Menschen ihr ganzes Leben lang herumschlagen und die bei Büsser überhaupt nicht mehr erwähnt wird, treten als Charakteristika der Pubertät wie in einem Echo auf Blochs idealistisch verkitschten Marxismus „das Recht zum Tagtraum“ und zum, wohlgemerkt gegenstandslosen, „Grübeln und Schwelgen“. Es geht also gerade nicht um die nie ohne Wunden verlaufende Anstrengung, die dem sich entwickelnden Selbst bedrohlich gegenübertretenden Aspekte der eigenen Sexualität zu integrieren, ihre Ansprüche mit denen der Wirklichkeit zu vermitteln, es geht überhaupt nicht mehr um Vermittlung, sondern um Stillstand, um eine im Namen des „Leidens“ an „der Welt“ verweigerte Individuation, die mit ihrem Lob der Scheu, der Introversion und des Träumens Fähigkeiten, die nur als individuelle entwickelt werden können, als gemeinschaftsstiftende Eigenschaften einer Gruppe ausgibt.

Der Zweck, in dessen Dienst diese Eigenschaften genommen werden sollen und der sie als derart wünschenswert erscheinen lässt, ist allerdings entgegen Büssers männerkritischer Diktion weiterhin ein genuin männlicher. Das geschlechterpolitische Konzept von Emo besteht nämlich keineswegs in einer irgendwie subversiven „Transgression“ der Grenze zwischen den Geschlechtern, sondern in einer Selbstfeminisierung des Mannes, die es dem (mit Vorliebe pop- oder subkulturellen) männlichen Subjekt erlaubt, sich als „weiblich“ begriffene Eigenschaften als unproblematischen Bestandteil seines eigenen Selbst zuzueignen. Emo ist also kein Modell für eine kulturrevolutionäre Selbstentäußerung, sondern ein Aneignungsmodell und gerade darin der vielgepriesenen „Androgynität“ bedenklich nahe, die immer schon ein erzreaktionäres Konzept gewesen ist. Im Gegensatz zu Butlers Begriff der Gendertransgression, der das Übertreiben, Überspielen und Collagieren von als „natürlich“ erachteten Rollenmustern meint, bezeichnet Androgynität die gesamte Begriffsgeschichte seit Platon hindurch die konfliktlose Versöhnung „männlicher“ und „weiblicher“ Geschlechtseigenschaften in einem feminisierten, aber männlichen Idealselbst, das qua Verschmelzung mit dem „Weiblichen“ endlich der glücklichen Erfahrung seiner zuvor verdrängten „weiblichen Anteile“ teilhaftig werden darf, ohne dabei in seiner Identität ernsthaft infragegestellt zu werden (vgl. Aurnhammer 1986). Die simple Tatsache, dass männliche Emos zwar androgyn aussehen und sich in Mode und Gestik „feminisieren“, weibliche Emos sich aber keineswegs „vermännlichen“, sondern durch androgyne Selbststilisierung sogar eher noch traditionell „weibliche“ Aspekte des eigenen Looks unterstreichen, wird bei der Beschäftigung mit der Emo-Kultur denn auch regelmäßig unterschlagen. Gerade darin aber, dass in ihm die „Überschreitung“ und „Verflüssigung“ männlicher Identität als angeblich kulturrevolutionäre Entgrenzung abgefeiert wird, ist der Emo-Diskurs symptomatisch für eine Tendenz der gesamten Gender- und Queer-Debatte, bei der es immer seltener um konkrete homo- oder transsexuelle Menschen oder um den Herrschaftscharakter von Geschlechterverhältnissen geht, sondern um die Denunziation jeglicher, wie auch immer bestimmter, sexueller Identität im Namen eines diffusen Dazwischenseins, Shiftens und Nomadisierens, das nichts anderes ist als die Verdoppelung der gesellschaftlichen Unmöglichkeit zur Individuation, die das „männliche Subjekt“, das die ideologische Urform bürgerlicher Individualität darstellt, in besonders offensichtlicher Weise bedroht. All der selbst schon wieder beinahe aggressiven Beschwörung von Scheu und Introversion – weniges ist im alltäglichen Umgang so unangenehm wie penetrante Schüchternheit – geht es in Wahrheit nicht darum, „feminine“, „weiche“ oder „zarte“ Anteile des eigenen Selbst endlich „zulassen“ zu dürfen, sondern im Gegenteil darum, die gesellschaftlich längst virulente Erfahrung der Brüchigkeit und Ambivalenz des männlichen Geschlechtscharakters durch Integration in ein androgynes Versöhnungsmodell zu exorzieren. Insofern stellt der Typus des fragilen Mannes, wie er von Emo entworfen wird, den idealen polyamorösen Verhandlungspartner dar: Bereit zur Selbstzurücknahme, ohne stabiles Ich und ohne identitäre Mucken, stellt seine Schwäche zugleich eine Stärke dar, mittels derer er sich gegenüber den älteren bürgerlichen Modellen seines Geschlechts als flexiblere und realitätstauglichere Spezies behaupten kann. Die „Emotionalität“, die seine Fans als Bekenntnis zu einer gesellschaftlich verdrängten Qualität begreifen, ist in Wahrheit ein Mittel der geschmeidigeren Anpassung an eben diese Wirklichkeit.

Lob der Kälte

Nur scheinbar steht der postmoderne Hype von Emotionalität, empfindsamer Liebe und gefühliger Unentschiedenheit im Gegensatz zum altgedienten Vorurteil, die Postmoderne sei eine Ära der Kälte, der Oberflächlichkeit und des Scheins, der fröhlichen Affirmation von Verdinglichung und Entfremdung. Deren authentischer Kultus ist vielmehr längst Geschichte und war ein genuines Phänomen der Moderne (vgl. Lethen 1994). Seine wichtigsten geschlechtertypologischen Erscheinungsformen waren der Vamp und der Dandy, seine emphatischen Ausdrucksformen Mode und Maskerade. Obwohl auch der Dandy sich als „feminisierter“ Mann und der Vamp sich als Frau beschreiben lässt, die sich den Gestus „männlicher“ Souveränität und Kälte zugeeignet hat, erscheinen beide Typen im Zeitalter postmoderner Emotionalität, das Geschlechterdiffusion und „Metrosexualität“ als neueste Entdeckung preist, zurückgeblieben und anachronistisch. Während Polyamorie und Emo, deren subkulturelle Szenen sich nicht zufällig oft überschneiden, unter dem Schlagwort der Emotionalität an der reibungslosen Versöhnung von Welt und Selbst arbeiten, gewinnen Dandy und Vamp gerade aus dem Ausspielen der Antagonismen, die künstlich übertrieben und stilisiert werden, ihre erotische Kraft. Die postmoderne Emotionalität zielt auf eine universale Weichheit, eine Art schaumstoffgeschützte Zivilgesellschaft, in der alle Konflikte verhandelbar sind, Identitäten a priori brüchig und prekär sein müssen und jeder Affekt großzügig und dankbar sein eigenes Gegenteil zulässt. Die moderne Kälte von Herz und Habitus dagegen, wie sie der Dandy und der Vamp verkörpern, betont die schroffen Gegensätze, um sie aus der Spannung des Antagonismus heraus ineinander umschlagen zu lassen: Wie der Vamp sich durch Mode und Schminke so sehr zur „Frau“ stilisiert, dass seine Weiblichkeit in bedrohliche Souveränität, seine Schönheit in Dämonie umschlägt, so kultiviert der Dandy Distanz und Sachlichkeit, Ungerührtheit und Unberührbarkeit so exzessiv, dass sie eine Attraktionskraft entfalten, wie Rührung und Affektivität sie nie entfachen könnten. Ihre Kälte, die schon von Zeitgenossen als Symptom typisch „moderner“ Entfremdung diffamiert wurde, bewahrt in Wahrheit das Bewusstsein um die Zerbrechlichkeit des Herzens, den Schmerz aller Lust und um die unversöhnte Wirklichkeit, das von der postmodernen Indienstnahme der Emotionen als Gesellschaftskitt verraten wird.

Literatur

  • Achim Aurnhammer: Androgynie. Studien zu einem Motiv in der europäischen Literatur. Köln, Weimar, Wien 1986

  • Martin Büsser: Die zarteste Versuchung. Niemand kann die Emos leiden. Doch die Motive hinter dem neuen Feindbild sind allesamt reaktionär. Ein Plädoyer für die Emos. In: Jungle World 33 (2008)

  • Martin Büsser / Jonas Engelmann / Ingo Rüdiger (Hgg.): Emo. Porträt einer Szene. Mainz 2009

  • Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München, Wien 1998

  • Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750-1850. Frankfurt/Main 1991

  • Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt/Main 1994

  • Herbert Marcuse: Zur Kritik des Hedonismus. In: Ders.: Kultur und Gesellschaft I. Frankfurt/Main 1967

  • Mirko Maschewsky: Polyamouröse Erlösung. Für einen dialektischen Antisexismus und andere Unordentlichkeiten. In: Phase 2.25 (2007)

  • Oliver Schott: Dem Leben Schönes schenken. Warum ist heute die Monogamie auch in linken Milieus die gängige Form der Liebesbeziehung? In: Jungle World 35 (2007), Dossier

  • Liebe und Sex ohne Grenzen. In: Focus, 8. 10. 2009

  • Vater, Vater, Mutter, Kind. In: Die Zeit, 7. 12. 2010

Fußnoten

  1. Zwischen Entstehung und Veröffentlichung dieses Textes ist Martin Büsser völlig unerwartet an einer schweren Krankheit gestorben. Ich habe mich entschieden, die Kritik an ihm weitgehend ungemildert zu übernehmen, zum einen, weil sie wesentlich die Argumentation trägt, zum anderen, weil an ihr selbst evident werden dürfte, dass die Auseinandersetzung mit seinen Texten sich stets auch dort gelohnt hat, wo er falsch gelegen haben mag. Nicht nur das unterscheidet ihn von den meisten Zeitgenossen.