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K S R
Einleitung
Kunst, Spektakel & Revolution N°8 - Gegen|Öffentlichkeit

Lukas Holfeld

Der Film „Brecht die Macht der Manipulateure“1 von Helke Sander, in dem sie in den Jahren 1967 und 68 gemeinsam mit Harun Farocki, Ulrich Knaudt und Skip Norman die Springer-Kampagne des Westberliner Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) und der Außerparlamentarischen Opposition (APO) begleitete, zeigt exemplarisch auf verschiedenen Ebenen die Schwächen und Stärken von linker Gegenöffentlichkeit und Medienkritik. Der Film geht zunächst von einer relativ einfachen Manipulationshypothese aus. Unter den Schlagwörtern „aus wirtschaftlicher Macht folgt politische Macht – daraus folgt: Manipulation der Entmachteten – daraus folgt: Verschleierung der Krisen – daraus folgt: Verhinderung von Emanzipation“ nimmt der Film zwei wichtige Organe des Springer-Verlags in den Blick: „Die Welt“ und die „BILD-Zeitung“. So wird gezeigt, dass „Die Welt“ ein Selbstverständigungsorgan der herrschenden Klassen ist, dass sie mit bestimmten Kapitalfraktionen verbunden ist, in deren Sinne versucht, Einfluss auf die Politik zu nehmen und dabei bestimmte Krisenlösungsmodelle zu forcieren. Im Gegensatz dazu ist die „BILD“ auf die unteren Klassen zugeschnitten. Mit Hilfe der „BILD“ sollen den Arbeitern die Folgen der Krisenlösung, von denen sie selbst betroffen sind, als unausweichlich dargestellt und die Schuld auf Akteure jenseits von Politik und Wirtschaft abgelenkt werden: auf radikale Studenten und die Zone.

In der Auseinandersetzung mit der Springer-Kampagne versuchen die Filmemacher:innen gleichzeitig ihre eigene Arbeit zu reflektieren: Sie legen im Film die experimentelle Suche nach einer Ästhetik offen, die in der Lage sein soll, die Kritik der Verhältnisse jenseits der herrschenden ideologischen Bilder auszudrücken. Mit der Losung „Revolutionäre Gesellschaftskritik kritisiert den Gegenstand, indem sie ihn verändert“ wird der Übergang von einer bloßen Dokumentation hin zu einer direkten Intervention gemacht: Die Filmemacher:innen besuchen einen Presseball Springers, auf dem gleichzeitig Westberliner Politprominenz anwesend ist, mit dem Vorhaben, diese Veranstaltung zu stören. Sie entrollen ein Transparent mit der Aufschrift „Mit Geld Politik machen – mit Politik Geld machen“, das die Verflechtung von Politik, Wirtschaft und Medienkonzern kenntlich machen soll, werden daraufhin von Besuchern des Presseballs attackiert und von der Polizei abgeführt. Diese Intervention wird im Film dokumentiert, ausgewertet und erklärt.

Diese beiden beschriebenen Momente des Films kennen wir vom heutigen linken Aktivismus: Eine allzu einfache Analyse, die den Medien die Macht der Manipulation über eine passiv gehaltene Bevölkerung zuschreibt, und ein selbstbezogener Medienaktivismus, der auf einer symbolischen Ebene verbleibt und der sich selbst verdoppelt, indem er sich medial verarbeitet und ausstellt. Gleichzeitig wird im Film diese Beschränkung überschritten. Während der Abschluss heutiger linker Kampagnen oft darin besteht, dass man sich selbst noch einmal erzählt, wie erfolgreich das ganze Plenieren, Konferieren und Demonstrieren gewesen ist, unabhängig davon, was tatsächlich erreicht wurde, gesteht der Film das Scheitern der eigenen Bemühungen ein: „Die Springer-Kampagne ist tot!“ Davon ausgehend bemüht der Film eine kritische Reflexion, in der die einfache Manipulationshypothese überschritten und der Übergang zur Ideologiekritik gemacht wird:

  • „Wir haben fünf Monate lang analysiert und herausgefunden, dass wir mit der Springer-Kampagne die Arbeiterschaft nicht mobilisieren können. Nicht, weil die BILD-Leser an ihrer Zeitung hängen. Sie wissen genau, dass sie belogen werden. Aber das Problem der BILD-Leser ist nicht ihre Dummheit, sondern ihre Ohnmacht. Diese Ohnmacht ist in erster Linie nicht durch die BILD-Zeitung, sondern vermittelt durch die Stellung der Arbeiter im Produktionsprozess. Die Springer-Kampagne kann nicht geführt werden ohne eine Kampagne gegen Unterdrückung und Ausbeutung am Arbeitsplatz. Jetzt erst, nachdem wir durch unsere Oster-Aktion den Konsensus der Ohnmacht durchbrochen haben, können wir damit beginnen, die Massen über ihre Interessen aufzuklären.“

Diese Worte spricht Harun Farocki aus dem Off, während die Kamera die Räumlichkeiten zeigt, in denen die organisatorische Arbeit an der Springer-Kampagne stattgefunden hat. Der Anspruch, die Massen aufzuklären, der uns heute in seinem agitatorischen Selbstbewusstsein fremd erscheinen mag, ist jedoch gleichzeitig mit einer Reflexion der eigenen Rolle und der eigenen Arbeitsbedingungen verbunden. Helke Sander wird als Sprecherin auf einer studentischen Versammlung gefilmt:

  • „Wir, die wir jetzt Filme machen, sind seit längerem dabei, den Kampf der Berliner Studenten gegen den Springer‘schen Manipulationsapparat zu dokumentieren. Wir wollen aber nicht nur dokumentieren, sondern auch mit dem Film agieren und agitieren. Wir tun nicht mehr so, als gäbe es eine wertfreie, objektive Berichterstattung. Die Darstellung über die inneren Vorgänge unserer Bewegung wird nur denen vorbehalten sein, die an ihr teilnehmen. Diese Teilnahme hat uns verändert. Diese Veränderung wird auf unsere spezifischen Arbeitsbedingungen zurückwirken. Wir können unsere Filme nicht verändern, wenn wir nicht die Produktionsverhältnisse ändern. Wenn wir einen Film über Springer machen, arbeiten wir nicht nur für neue Kommunikationsstrukturen, sondern auch für neue Produktionsbedingungen. Der Kampf gegen Springer kann nur gelingen, wenn neue Qualitäten in unseren eigenen Arbeitssituationen geschaffen werden. Wir wollen die Produktionsmittel! Lehrer und Schüler kämpfen, wenn sie gegen Springer kämpfen, für ein anti-autoritäres Schulsystem; Lehrlinge und Arbeiter für Mitbestimmung und Mitentscheidung über die Produktionsmittel in den Betrieben; die Frauen für ihre Befreiung von ökonomischer Unterprivilegiertheit, von einem Leben aus zweiter Hand, von der Trennung in Arbeit und Produktivität. Wenn wir also bei den Aktionen nicht direkt uns beteiligen, sondern mit den Filmkameras, dann agieren wir auch nur in einem anderen technisch-chemischen Verfahren. So.“

Indem auf diese Weise die eigene Arbeit reflektiert wird, wird nicht nur das Subjekt-Objekt-Verhältnis von Agitator und Agitiertem durchbrochen, gewissermaßen „Selbstaufklärung“ betrieben. Die Reflexion verschiebt sich gleichzeitig auf die Ebene des Alltags, also die Sphäre der individuellen Reproduktion, in der sich die verkehrten Trennungen geltend machen und wo die Entfremdung zuschlägt:

  • „An der Springer-Kampagne haben die Studenten gelernt, für die Utopie zu arbeiten. Eine neue Gesellschaft verlangt nicht nur die politisch-ökonomische Revolution. Revolution heißt auch: das Zusammenleben in den Häusern umzufunktionieren. Die herrschende Klasse hat unsere Häuser so gebaut, dass die Bewohner in die Isolation gezwungen werden und dadurch ihre Klassensituation verinnerlichen müssen. Die Arbeitsteilung setzt sich auch in der Zersplitterung des Wohnraums fort. Die Umwandlung der Gesellschaft fängt da an, wo der Widerspruch zwischen Arbeit = Zwang und Freizeit = Freiwilligkeit aufgehoben wird. (…) Das Problem der Manipulation wird nicht dadurch aus der Welt geschafft, dass Springer ein paar Zeitungen an andere große Verlagshäuser verkauft. Das Problem wird nur aus der Welt geschaffen, dass eine entmündigende und enthumanisierende Gesellschaftsordnung vernichtet wird, die an den entscheidenden Stellen – im Elternhaus, in den Schulen und den Betrieben – immer noch Bedingungen für ihr Fortbestehen hat.“

Von dieser Position aus gelangt Helke Sander zur Forderung nach der Herstellung kollektiver Wohnformen, selbstorganisierter Kindergärten und anti-autoritärer Erziehungsmodelle. Dass wir heute mit diesen Schlagworten vor allem die Klitschen einer neuen, links-liberalen Mittelschicht verbinden – „die schlechte Aufhebung der autoritären Persönlichkeit“2 –, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Teile der APO um 1968 zumindest auf der theoretischen Ebene tatsächlich zu einem entscheidenden Punkt vorgedrungen waren: Dass die kapitalistische Gesellschaft als Totalität einer bestimmten Form von Produktion und Reproduktion überwunden werden muss und dabei das Alltagsleben eine entscheidende Sphäre gesellschaftlicher Konflikte darstellt. Die Kritik bestehender Formen von Öffentlichkeit nimmt in dieser Erkenntnis eine wichtige Rolle ein.

Kaum ein Begriff ist so zentral für die bürgerliche Gesellschaft wie jener der Öffentlichkeit. Der Begriff der Demokratie bezeichnet einerseits die Herrschaft des Volkes, impliziert aber auch das Zeigen, die Transparenz, die Öffentlichkeit. In der Emanzipation des Bürgertums gegen die Aristokratie ist der Kampf um die Öffentlichkeit im doppelten Sinne präsent: zum einen soll die Politik in der Öffentlichkeit diskutiert werden, sie muss vor ihr bestehen können. Zum anderen soll die Gewalt selbst öffentlich werden: das Bürgertum fordert Zugang zu den Ämtern, die das Allgemeine regeln. Im Zuge seines Aufstiegs schuf das Bürgertum mit der Öffentlichkeit eine Illusion: Dass in ihr der vorurteilsfreie, standesunabhängige Austausch von Argumenten entscheidend sei. Die Vorstellung, dass das bessere Argument sich schließlich gewaltfrei durchsetze, sieht ab von der Zerrissenheit der Gesellschaft, in der nach wie vor jene Gewalt wirkt, die in der Öffentlichkeit zu verschwinden scheint. Der Pathos der Gleichheit, mit dem sich bürgerliche Öffentlichkeit legitimiert, abstrahiert von der realen Ungleichheit. Zwar bedeutete die Öffentlichkeit, wie sie in den bürgerlichen Salons entstand, tatsächlich eine relative Unabhängigkeit von der Standesposition und war insofern ein Fortschritt – auch wenn sich die Frage stellen lässt, wer überhaupt einen Zugang zu diesen Salons haben konnte. Mit der Institutionalisierung von Organen der Öffentlichkeit – dem Pressewesen – wird dieser Fortschritt wieder kassiert. Es entsteht eine neue Ungleichheit, die auch einen ungleichen Zugang zu den Mitteln und Bedingungen bedeutet, mit denen eine Teilnahme an der Öffentlichkeit überhaupt erst möglich ist. Dass Öffentlichkeit materiell produziert werden muss und die dafür notwendigen Produktionsmittel ungleich verteilt sind, verweist auf den Umstand, dass die Gesetze der Ökonomie auch in der Öffentlichkeit wirken und einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Bildung der öffentlichen Meinung haben. Während die Insassen der bürgerlichen Gesellschaft in Klassen getrennt, voneinander isoliert und in Konkurrenz zueinander stehend vor sich hin werkeln, soll die Öffentlichkeit eine nachträgliche Synthese herstellen, in der formell gleiche Staatsbürger miteinander über die Angelegenheit der Allgemeinheit debattieren, während die verkehrten Trennungen bestehen bleiben. In dem die Öffentlichkeit ihre eigenen Voraussetzungen unangetastet lässt und verdrängen muss, erhält sie die Funktion des permanenten wie folgenlosen Gesprächs der bürgerlichen Gesellschaft über sich selbst. Eine Verschiebung innerhalb der Öffentlichkeit mag zuweilen partielle Auswirkungen auf die anderen gesellschaftlichen Sphären haben, aber eine grundlegende Veränderung ist von hier aus kaum denkbar: das Spektrum der zugelassenen Meinungen ist immer schon definiert durch das Einverstandensein mit dem Bestehenden.3 In der Öffentlichkeit mag es möglich sein, Kritik an einzelnen Entwicklungen, Maßnahmen, Personen, Parteien zu formulieren – eine wirkliche Selbstverständigung über das Erlebte ist in ihr tendenziell unmöglich. Nicht, weil es verboten wäre. Fast alles kann heutzutage gesagt werden, wenn es denn folgenlos bleibt. Die Institutionalisierung des Pressewesens mit seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten sorgt dafür, dass bestimmte Inhalte und Ausdrucksweisen draußen bleiben – ganz ohne Repression oder Verbot. Was gesagt werden kann, was kommunizierbar ist oder nicht, hängt auch davon ab, wie sich die gesellschaftlichen Sphären zueinander verhalten. Ursprünglich war die Sphäre des Alltags mit ihrer (immer wieder geschlechtlichen) Arbeitsteilung, ihren Rollenbildern, Entfremdungserfahrungen, Gewohnheiten, Verhaltens- und Bewegungsmustern usw. per Definition aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen: Das Private galt als Gegenteil des Öffentlichen und sollte niemanden etwas angehen, obwohl sich gerade in dieser Sphäre die allgemeinen Vergesellschaftungsformen schmerzhaft geltend machen. Heute ist die bürgerliche Öffentlichkeit zu einer Ansammlung aus öffentlichen Privatismen geworden – endlos sind die Beispiele von Ratgeberliteratur, Lifehacks, Selbsterfahrungsberichten, Alltagskolumnen. Es gibt geradezu ein obsessives Interesse an Psychologie und eine Lust, das Dokumentarische bis ins Intimste vordringen zu lassen. Dabei bleibt das Individuelle unvermittelt zu dem, was sich allgemein und objektiv in gesellschaftlichen Prozessen Geltung verschafft. Der Journalist des postmodernen Alltagslebens kommt weder auf die Idee, sich zu fragen, in welchem Bezug das beobachtete Detail zum Ganzen steht, noch, welche Rolle er selbst darin spielt.

In der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft gab es immer wieder Versuche, Formen von Gegenöffentlichkeit herzustellen. Arbeiter:innen, Frauen, von der Norm Abweichende, Dissidenten und andere, deren Erfahrung in der etablierten öffentlichen Sprache keinen Ausdruck finden konnte, schufen sich eigene Formen der Öffentlichkeit, um sich untereinander zu verständigen, Räume für die Reflexion der eigenen Erfahrungen zu ermöglichen und Kritik artikulieren zu können. Diese Formen der Gegenöffentlichkeit waren immer wieder damit konfrontiert, dass ihre Etablierung und Professionalisierung mit einer Angleichung an die herrschenden Formen der Öffentlichkeit verbunden war. Wenn wir – als mehr oder weniger lose assoziierte Individuen, die eine theoretische und praktische Gesellschaftskritik für notwendig halten – auf die Formen bestehender Gegenöffentlichkeit blicken, erscheint es uns, als ob wir oftmals nur die Schlappen der Bewegung geerbt haben. Entweder sind sie durch ihre Etablierung langweilig und zahm geworden, oftmals gebunden an staatliche Förderprogramme und ihre Bedingungen, oder sie sind von linker Nestwärme und Anspruchslosigkeit beschränkt. Immer wieder verstellen auch ein akademischer Stil oder der verdinglichte Kampagnen-Sprech der Linken einen reflexiven Zugang zu Erfahrungen, die sich kritisch artikulieren wollen. Zu selten findet eine wirkliche Reflexion auf die (ästhetischen) Formen der (eigenen) Öffentlichkeit statt. Stattdessen sind wir auf Social Media verwiesen, die Vereinzelung par excellence: in der eigenen Timeline werden Nachrichten, Informationen, Sprüche, Bilder, Lifestyle-Produkte, politische Haltungen auf Quantitäten reduziert, die man sich via Like zur ausgestellten individuellen Haltung zusammen stellen kann. Wir haben keine Kontrolle über die Bedingungen dieser Art von Kommunikation. Vergleicht man dies etwa mit der früheren Bewegung der Infoläden, die zumindest die materiellen Voraussetzungen für relativ vielfältige und kontroverse Diskussionszusammenhänge bedeuteten – als konkrete Orte überregional vernetzt –, bekommt man eine Ahnung, was wir vielleicht verloren haben.

Dass wir uns in dieser Ausgabe von Kunst, Spektakel & Revolution mit dem Begriff der Öffentlichkeit auseinandersetzen, hat mehrere Gründe. Ein Teil der Redaktion blickt auf eine Episode der Arbeit innerhalb von freien Radios zurück. Ein anderer Teil war und ist im mehr oder weniger etablierten Journalismus tätig. Die Tätigkeit in diesen Bereichen – nicht selten gekoppelt an verschiedene Formen der Lohnarbeit – war immer wieder mit Frustration und Enttäuschungen verbunden und so entstand das Bedürfnis einer theoretischen Verständigung über das selbst Erlebte. Nicht zuletzt ist die Auseinandersetzung mit Öffentlichkeit auch eine Reflexion der eigenen Tätigkeit als Redaktion eines unregelmäßig erscheinenden Magazins, dessen Anspruch darin besteht, Gesellschaftskritik publik zu machen. Kunst, Spektakel & Revolution ist auch der Versuch, eine kritische Öffentlichkeit selbst herzustellen, Bildung und Selbstbildung zu organisieren und dabei eine unabhängige Position einzunehmen.

Der Inhalt dieser Ausgabe gliedert sich in mehrere Abschnitte. Die ersten vier Texte leisten eine grundlegende begriffliche Reflexion über Öffentlichkeit, wobei der Text „Wenn wir streiken, steht die Welt still“ von Selina Arthur, Malin Ford und Franziska Trillian eine besondere Stellung einnimmt, da er mit dem feministischen Streik 2018 auf den direkten Versuch einer kritischen Praxis in der jüngeren Vergangenheit reflektiert. Mit den Texten von Jérôme Seeburger und Lilli Helmbold folgen zwei Beiträge, die sich mit Karl Marx, Karl Krauß und der Arbeiter Illustrierten Zeitung (AIZ) auf konkrete historische Erfahrungen einer kritischen Öffentlichkeit beziehen. Die darauf folgenden Texte beschäftigen sich mit Film und Kino, die historisch eine Form von Öffentlichkeit herstellten, in der das Massenpublikum erstmals eine Rolle spielte. Dabei wird die Frage diskutiert, inwiefern dieses Medium auch kritisch angeeignet werden kann und welche Ambivalenzen dabei zutage treten. Dem folgen drei Texte, die sich mit der Geschichte und Gegenwart der freien Radios als einem Versuch der Gegenöffentlichkeit auseinandersetzen. Der Text von Michel Raab über Landnahme im digitalen Raum diskutiert die Verwendung von digitalen Diskussionsplattformen in der radikalen Linken. Der Beitrag von Club Communism formuliert „Thesen zum Stützpunkt“, wobei Stützpunkte als konkrete Orte und materielle Voraussetzung verstanden werden können, von denen aus überhaupt auch eine kritische Öffentlichkeit hergestellt werden kann. Dabei nicht von „Freiräumen“ zu sprechen, impliziert bestimmte strategische Überlegungen.

Dieser Ausgabe von Kunst, Spektakel & Revolution liegt in einer kleinen Extra-Broschüre der Text „Der Aktivismus als höchste Stufe der Entfremdung“ der Gruppe Organisation des Jeunes Travailleurs Révolutionnaires von 1972 bei. Der Aktivismus kann dabei als eine professionalisierte Form der Öffentlichkeitsarbeit begriffen werden. Der Text hilft zu verstehen, was an dieser Ausrichtung auf die bestehenden Formen der Öffentlichkeit verkehrt ist. Für die hier veröffentlichte Version des Textes haben wir mehrere online kursierende Übersetzungen mit der französischen Originalversion verglichen und eine stilistische Überarbeitung vorgenommen. Wir danken dem französischen Genossen, der namentlich nicht genannt werden möchte, für die einordnende Einleitung zum Text.

Das hier Vorgelegte ist nicht vollständig. Nur ein Text beschäftigt sich mit digitalen Medien, was deutlich macht, dass die Analyse gegenwärtiger Formen der Öffentlichkeit nicht im Zentrum steht. Überhaupt haben die Corona-Jahre auch Formen der Öffentlichkeit und die Debatte um sie verändert – wir konnten diese Entwicklung nicht im Heft abbilden. Stattdessen geht es um eine grundlegende Begriffsarbeit. Die hier versammelten Beiträge sollen zeigen, worum es in gegenwärtigen Debatten und Kämpfen um Öffentlichkeit überhaupt gehen müsste, wohinter nicht zurückgefallen werden darf und was in heutigen Auseinandersetzungen fehlt. Sie sollen Handreichung und Munitionierung sein.

Wir danken allen Autorinnen und Autoren, die Beiträge für dieses Heft geschrieben haben. Danke vor allem für die enorme Geduld, bis es endlich zu einem Druckergebnis gekommen ist. Wir haben zu lange an diesem Heft gearbeitet: es sind vor allem die Anforderungen der Lohnarbeit, aber auch andere Krisen und Umbrüche, die die redaktionellen Prozesse verlangsamt haben. Wir haben uns künftig vorgenommen, kleinere Ausgaben zu machen. Ob es eine neue KSR-Ausgabe geben wird, welche Form sie haben und wer sie herausgeben wird, wird sich zeigen.

Nachdem blogsport.de offline gegangen ist, hatte Kunst, Spektakel & Revolution längere Zeit nur eine sporadische Online-Präsenz. Unter spektakel.org ist nun wieder ein umfassendes Archiv mit zahlreichen Vortragsmitschnitten verfügbar. Auch Textbeiträge aus älteren KSR-Ausgaben sollen hier Stück für Stück online gestellt werden. Dort findet ihr außerdem Hinweise und Neuigkeiten, was die Veranstaltungsreihe und Publikationen betrifft.

Um Kunst, Spektakel & Revolution herausgeben zu können, sind wir fortlaufend auf Spenden angewiesen. Wenn ihr KSR unterstützen wollt, könnt ihr auf das Konto des Bildungskollektivs überweisen (im Überweisungsbetreff sollte irgendwas mit Kunst, Spektakel oder Revolution vermerkt sein):

  • Bildungskollektiv BiKo e.V.
  • IBAN: DE73 8205 1000 0100 1126 17
  • SWIFT-BIC: HELADEF1WEM

Auf Nachfrage stellen wir gern eine Spendenquittung aus.

  1. dffb-archiv.de/dffb/brecht-die-macht-der-manipulateure – Alle Zitate im Text sind O-Töne aus dem Film.
  2. Frank Böckelmann: Die schlechte Aufhebung der autoritären Persönlichkeit, Freiburg 1987.
  3. Kommunistinnen und Revolutionäre geben den Anspruch der Öffentlichkeit nicht auf, nur weil er mit der bürgerlichen Gesellschaft verbunden ist, hinter die sie nicht zurück fallen, sondern über die sie hinaus wollen. Sie verkünden offen und öffentlich, welches Programm sie vertreten und welche Ziele sie erreichen wollen, auch wenn Strategie und Taktik zuweilen eine klandestine Organisierung nötig machen. Sie verteidigen das Prinzip der Aufklärung, dass Prozesse und Entscheidungen von gesellschaftlicher Relevanz vor der Kritik der Öffentlichkeit zu bestehen haben – auch wenn das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft und die Klassengesellschaft überwunden wurde. Sie sind nicht für eine Abschaffung der Öffentlichkeit, sondern streben eine wirkliche Herstellung von Öffentlichkeit an, indem sie einen allgemeinen Zugang zu den Produktionsmitteln der Öffentlichkeit erreichen wollen. Trotzdem machen sie sich nichts vor: Die Herstellung von Öffentlichkeit allein kann keine grundlegende Veränderung bewirken. Dies ist die Illusion des Aktivismus, dessen Haupttätigkeit in einem (vermeintlichen) Herstellen von Öffentlichkeit und einem Buhlen um sie besteht.