Kunst
Spektakel
Revolution
K S R

Wir brauchen Eure Unterstützung! Spendenaufruf Broschüre N°9

Editorial

Kunst, Spektakel & Revolution N°9

Diese Ausgabe von Kunst, Spektakel & Revolution kehrt gewissermaßen an den Anfang der Reihe zurück: Es geht um Theorie und Geschichte der Avantgarde. Das heißt, es geht um jene Strömungen der Kunstgeschichte, die sich der Revolution zuwandten und die Institution der Kunst sprengen wollten. Diese Strömungen wollten die Wurzeln der Widersprüche des modernen Zeitalters freilegen und entwickelten dabei eine faszinierende Formensprache. Sie erreichten einen erstaunlichen Grad der Reflexion künstlerischer Mittel, formulierten einen heftigen Einspruch gegen den herrschenden Status quo und traten ein für das Neue. Dabei waren die Avantgarden selbst von einer Reihe von Widersprüchen geprägt – so revolutionär sie alle waren, bedeutete dies nicht immer Menschlichkeit in einem emanzipatorischen Sinne. Und ihr Unterfangen ist auf seltsam untote Weise in der Postmoderne präsent, die die Moderne nicht überwunden hat. Die Faszination an den historischen Avantgarden soll in diesem Heft in eine begriffliche Diskussion überführt werden.

Angesichts der multiplen Krisen der Gegenwart, die in mancher Hinsicht eine gesellschaftskritische Neuorientierung erfordert und in der uns das Wasser bis zum Halse steht, mag das Thema dieser Ausgabe als seltsam entrückt erscheinen. Die Welt brennt und wir diskutieren über Avantgarde – über eine historisches Phänomen, dessen Voraussetzungen längst verschwunden sind. Aber wenn die Umgangsformen gröber werden, ist es um so notwendiger, an einer Auseinandersetzung über das Sinnliche und Schöne festzuhalten. Es sind Aspekte dessen, was menschlich wäre, und die nicht aufgegeben werden dürfen, auch wenn sie in einer fernen Vergangenheit verloren zu sein scheinen. Walter Benjamin schreibt 1940 in seinen Thesen »Über den Begriff der Geschichte«, dass »der Kampf um die rohen und materiellen Dinge« die Voraussetzung für den Genuss der »feinen und spirituellen« Dinge ist. Er weist aber darauf hin, dass Letztere im Klassenkampf anders zugegen sind »denn als die Vorstellung einer Beute, die an den Sieger fällt. Sie sind als Zuversicht, als Mut, als Humor, als List, als Unentwegtheit in diesem Kampf lebendig und sie wirken in die Ferne der Zeit zurück.« So soll auch das Erbe der Avantgarden, um das zu streiten wäre, nicht den Herrschenden und ihrem akademischen Betrieb überlassen werden – in der Hoffnung, dass jene, die eine grundlegende Veränderung des Bestehenden für notwendig halten, etwas mit ihm anfangen können.

Die vorliegende Ausgabe N°9, die insgesamt 14 Beiträge versammelt, wird mit Thesen zur Avantgarde eröffnet, die eine Orientierung bieten sollen. Was hier nur kurz als Widersprüchlichkeit der Avantgarde angedeutet wurde, findet dort thesenhaft Entfaltung. Der Text von Mikkel Bolt Rasmussen gibt einen Überblick über die Debatten, die über die Avantgarden geführt wurden, wobei er eine Perspektive »nach der Avantgarde« eröffnen möchte. Diese Perspektive ist für ihn in solchen Bewegungen gegeben, die sich jeglicher Form der Institutionalisierung widersetzen. Dem folgt der Text »Aufstieg und Fall der Avantgarde« von Constant (1920–2005) aus dem Jahr 1964, der eine grundlegende Kritik sowohl der Kunst als auch der Avantgarde darlegt – eine Kritik, die im Umfeld der Situationistischen Internationale entstanden ist und deren Kontext von Lukas Holfeld in einer ausführlichen Einleitung zu Constants Text dargelegt wird. Constant hält Kunst und Künstler:innen für Erscheinungen von Verhältnissen, in denen Luxus und Spiel aufgrund des vorherrschenden Mangels nur für Wenige möglich sind – Avantgarde markiert hingegen die Schwelle, an der durch die Massenproduktion Luxus und spielerische Tätigkeit für alle möglich, aber noch nicht verwirklicht sind. Ein Aspekt der kritischen Theorie der Situationistischen Internationale wird folgend von Eric-John Russell genauer dargelegt: das konflikt-, militärtheoretische und strategische Denken. Die Situationist:innen verstanden sich nicht mehr als militärische Vorhut (Avantgarde im ursprünglichen Sinne), sondern als entfants perdus, also als verlorene Kinder, auf verlorenem Posten jenseits der Feindeslinien, die im fog of war dennoch unbedingt auf ein klarsichtiges strategisches Denken angewiesen sind. Daran schließen sich zwei Beiträge an, die in der historischen Abfolge noch einmal zurückgehen und sich dem Surrealismus zuwenden: Chris Weinhold kommentiert das hundertjährige Jubiläum des Surrealismus, wobei er in surrealistische Kerngebiete vordringt: Er würdigt den Surrealismus als bestimmte Negation der Kunst, die jedoch dazu neigte, gesellschaftlichen Normen mit abstrakter Negation zu begegnen. Don LaCoss (†) schildert seinerseits die Rolle surrealistischer Gruppen im Revolten-Jahr 1968 in den Städten Prag, Paris und Chicago, in denen sich der surrealistische Aufstand gegen das Realitätsprinzip für kurze Zeit zu verallgemeinern schien. Anne Hofmann und Alexandra Ivanova widmen sich dann der kommunistischen Schriftstellerin und Theoretikerin Lu Märten (1879–1970). Die kritische und materialistische Ästhetik Märtens weist zahlreiche Überschneidungen mit Intentionen der Avantgarden auf, wobei der Fokus des Beitrags auf der feministischen Kunstkritik Märtens liegt. Irene Lehmann wiederum führt in ihrem Beitrag in den russischen Formalismus als eine avantgardistische Strömung ein, die das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft grundlegend verändern wollte, aber trotzdem an der Autonomie der Kunst festhielt. Während der Formalismus im Verdikt vom Sozialistischen Realismus nur als Kampfbegriff und Schlagwort auftaucht, werden hier die Kontexte dieser Strömung näher beleuchtet – von der Biomechanik über den Verfremdungseffekt zu Bertolt Brecht, Sergej Eisenstein und anderen.

Im Mai 2015 fand in Halle an der Saale ein von KSR und Genoss:innen organisiertes Seminar über Meutereibestrebungen in der Musik statt, in dessen Rahmen Franz Hahn in die Harmonielehre Arnold Schönbergs einführte. Sechs Jahre später stand dann die Weimarer KSR-Reihe unter der Überschrift »Über Meutereibestrebungen in der Musik« und wir widmeten gemeinsam mit Franz Hahn in Weimar ein weiteres Wochenende der Schönbergschen Kunst des Tönesetzens. In dieser Ausgabe von Kunst, Spektakel & Revolution ist nun ein Schönberg-Essay von Franz Hahn abgedruckt, der schon einige Zeit in der Schublade lag, nebst eines nachträglichen Kommentars des Autors.

Frank M. Raddatz, der bereits in KSR N°6 (Theater – Realität – Realismus) über Gewalt und Realismus bei Heiner Müller geschrieben hat, hat für diese Ausgabe einen Text eingereicht, in dem er eine Kritik an einer Video-Montage der Gruppe Frankfurter Hauptschule formuliert. Um diese Kritik für Leser:innen direkt nachvollziehbar zu machen, drucken wir vorgelagert das Script von dem betreffenden Werk mit dem Titel »Motor« ab. Die Frankfurter Hauptschule beschäftigt sich darin mit Brechts Lehrstück »Die Maßnahme«, Müllers Replik »Mauser« und mit den Problemen der Postmoderne. Es sind darin zahlreiche Aspekte angesprochen, die auch in den anderen Texten dieser Ausgabe diskutiert werden – u.a. das postmoderne Vermächtnis der Avantgarde.

Für Kunst, Spektakel & Revolution war es immer wieder wichtig, kritische Theorie der Ästhetik und Revolutionstheorie zusammen zu führen. In dieser Ausgabe erscheinen zwei Beiträge, die explizit am revolutionstheoretischen Strang anknüpfen: eine nachdenkliche Anmerkung zu dem Text »Der Aktivismus als höchstes Stadium der Entfremdung« von 1972, den wir der Ausgabe N°8 als Extra-Broschüre beigelegt hatten, und ein Text der Gruppe Vogliamo Tutto über Basisarbeit und politische Organisierung. Diese letztgenannten Überlegungen erscheinen parallel auf dem Blog communaut.org – wir würden uns freuen, wenn daraus eine Debatte erwächst.

Die meisten Bilder in diesem Heft stammen aus dem Collagen-Buch »Nowhere Utopia« (2005) des britischen Kollektivs Somnambulist Internationale – wir danken den Somnambulist:innen, dass wir die Collagen verwenden durften. Eine kurze Selbstbeschreibung der Somnambulist Internationale befindet sich hinten im Heft.

Wir danken allen Spenderinnen und Spendern, die uns den Druck dieser Ausgabe ermöglicht haben. Um Kunst, Spektakel & Revolution fortführen zu können, sind wir immer wieder auf finanzielle Zuwendungen angewiesen – untenstehend findet ihr die Kontoverbindung des Bildungskollektivs. Für die Unterstützung beim Lektorat und bei den Übersetzungen für diese Ausgabe gilt großer Dank Lilli Helmbold, Jakob Hayner, Lena Ulrich, Magdalena Freckmann, Stefan Müller, Maximilian Hauer und Daniel Gönitzer.

Kunst, Spektakel & Revolution ist der Titel einer jährlich stattfinden Veranstaltungsreihe in der ACC Galerie Weimar und eines unregelmäßig erscheinenden Magazins. Infos zu beidem findet ihr unter: www.spektakel.org

Spendenkonto    

Bildungskollektiv BiKo e.V.
IBAN: DE73 8205 1000 0100 1126 17
SWIFT-BIC: HELADEF1WEM 

(Auf Nachfrage stellen wir gern Spendenquittungen aus.)