Do 21.11.2024 - 19:00 Uhr
ACC Galerie Weimar (Burgplatz 1+2)
Die unter dem Kürzel „russische Avantgarde“ bekannten Bewegungen der Kunst umfassen ein sehr breites Spektrum von Positionen, die sich im russländischen Imperium zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten. Während alle von ihnen eine ästhetische Revolution anstrebten, gestalteten sich die Beziehungen zu den politischen Revolutionen im Februar und Oktober 1917 sehr unterschiedlich. In meinem Vortrag werde ich dem Verhältnis von ästhetischer und politischer Revolution nachgehen. Im Falle des Symbolismus, mit dem die ästhetische Avantgarde im russländischen Imperium anhob, endete diese Beziehung tragisch, mit der Erschießung seines Wortführers Nikolaj Gumilev am 26. August 1921. Der bedeutendste Vertreter des russischen Futurismus, Velimir Chlebnikov, verstarb 27-jährig im Juni 1922, mittellos in einem Hospiz in der sowjetischen Provinz. Während also die Liaison der revolutionären Avantgarden mit der Sowjetpolitik etwa um diese Zeit endet, stellt sich gleichzeitig die Frage, wie lange die politische Revolution andauerte, bzw. ab wann die darauffolgende sowjetische Kultur ihre revolutionären Züge verlor.
Ich werde auf wesentliche Strömungen der Avantgarde (den Futurismus, den Suprematismus, den Konstruktivismus, die Produktionskunst) eingehen, um zu sehen, mit welchen künstlerischen Verfahren – wie der Verfremdung, der Zaum-Sprache, der Ungegenständlichkeit, dem Prinzip der Konstruktion, der Dingästhetik und dem Faktizismus – sie jeweils versuchten, eine revolutionäre Kultur zu erhalten. Während die sowjetischen Avantgarden in diesem Versuch mit Anbruch des Stalinismus ultimativ scheiterten, behielt ihr Erbe jedoch eine außerordentliche Aktualität außerhalb der Sowjetunion. Am Ende werde ich also auch auf Aktualisierungen der sowjetischen Avantgarde in den 1960er Jahren, nach dem Zerfall der Sowjetunion, und in den gegenwärtigen Neo-Marxismen eingehen.
Anke Hennig, geboren 1971 in Cottbus, studierte Russistik und Germanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin und in Moskau (MGLU und RGGU). Ab 2003 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich 626 "Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste" an der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte bilden Theorie und Poetik des russischen Formalismus, Konzeptionen der Kunstsynthese in der russischen Avantgarde und der totalitären Ästhetik sowie Zeitmedialität des Films. Sie ist Herausgeberin des Sammelbands Über die Dinge. Texte der russischen Avantgarde (2010).